Tarek gestikulierte sehr aussagekräftig – flache Hand vor der Kehle.
„Was? Ah... Schönen Gruß von Tarek, er hat noch eine Klaviersaite. Und dann kriegt ihr Betonschuhe und landet im Eibsee, der ist schön kalt. So kalt wie das Waschwasser hier. Zu essen haben wir auch nichts Gescheites!“
„Könnt ihr nicht runterkommen? Wir sitzen in der Post in Hellenbach. Soweit waren wir, als wir vor einer Schneewand standen. Was hätten wir denn tun sollen?“
„Dafür sorgen, dass wir uns alle in Hellenbach treffen! Dann hätten wir jetzt was Warmes zu essen!“
„Was hat euch eigentlich gebissen, schon so früh loszufahren? Um halb drei ist die Lawine runtergekommen, und um drei wollten wir uns treffen!“
„Ach, jetzt ist es unsere Schuld, ja? Na warte!“
Tarek nahm mir das Handy weg. „Silke, gib mir mal Karen, ja?“
Er wartete kurz.
„Karen, wir hängen hier fest und Silke sagt, es ist unsere eigene Schuld. Hau ihr eins rein, ja, wozu bist du die große Schwester! Und schickt einen Heli mit Champagner und Backhendl - “ ich zischte – „und Wiener Schnitzel mit Pommes. Oder wenigstens ein paar BigMäcs oder so. Wir leben von Müsliriegeln und Kartoffelchips und frieren uns hier den Arsch ab. Schämst du dich wenigstens?“
Er hörte sich aufgeregtes Geplapper an. „Dann ist es ja gut. Aber du solltest noch daran arbeiten, dabei nicht so blöde zu kichern! Ciao.“ Er gab mir das Handy zurück. „Dämliche Weiber. Die teuflischen Schwestern... Die lachen sich tot über uns. Sag bloß, du lachst auch!“
Ich bemühte mich um eine ernste Miene. „Naja, wenn ich unten in Hellenbach säße... Aber das ist doch mal wieder typisch für mich – kann ich nicht einmal zur ausgemachten Zeit irgendwo erscheinen anstatt eine Stunde zu früh?“
Tarek seufzte. „Ja, das passiert mir auch immer. Die Schüler sind schon ganz fertig. Wieso kommen Sie jetzt schon? Wir haben ja gar keine Pause zwischendurch! Am ersten Schultag war ich um zwölf in der Schule, und die Konferenz war erst um zwei. Ich dachte, der Weg hierher ist sicher voller Tücken und wollte Spielraum haben...“
„Und das haben wir jetzt davon. Einen anderen Weg gibt es hier nicht, oder?“
„Im Auto hab ich eine Wanderkarte von der Gegend.“
Wir kehrten um. Schnitzel ade!
Mittags gab es Knäckebrot, und meine Thermojeans begannen zu rutschen. Ich wollte den Gürtel ein Loch enger schnallen, aber es ging nicht, da war kein Loch mehr.
„Was treibst du da?“, fragte Tarek, der mich interessiert beobachtete.
„Du hast nicht zufällig eine Ahle dabei?“
„Der Herr von Welt reist nie ohne. Was bitte ist eine Ahle?“
„Um Löcher in Leder zu stanzen, damit ich den Gürtel so zumachen kann, dass die Jeans da bleiben, wo sie hingehören.“
Er reichte mir ein Schweizer Taschenmesser und ich zog den Gürtel aus den Schlaufen und pfriemelte eine Zeitlang daran herum, bis ich ein hässliches, unregelmäßiges Loch hineingebohrt hatte. Ich klappte das Messer wieder zusammen und gab es zurück. Tarek spielte mit dem Gürtel und schätzte die Entfernung zwischen dem Dorn und dem neuen Loch ab.
„Das sind weniger als sechzig Zentimeter! Bist du so dürr?“
„Sieht man doch!“, schnauzte ich und fädelte den Gürtel wieder ein. Herrlich, die Hose hielt wieder!
„Außerdem gibt´s hier ja nichts zu essen. Deine Sachen werden bestimmt auch bald zu weit, wart´s nur ab!“
„In den paar Tagen nicht. Und so wie du eingepuppt bist, sieht man gar nichts von dir.“
„Was erwartest du bei der Kälte?“
Er zuckte mit den Schultern. „Gar nichts. Ist ja auch egal.“
Ich malte ein bisschen auf meinem Skizzenblock herum, aber mir fielen nur schöne Muster für ganz dicke, warme Pullover ein. Stichpunkte für neue Kolumnen wollten auch nicht so recht kommen. Schließlich hatte ich doch einige vage Ideen, aber plötzlich durchzuckte es mich. „Mensch, bin ich blöde!“
„Ach ja?“ Tarek ließ sein Buch sinken.
„Du glaubst, mein Auto bloß ist ein Auto, ja?“
„Diese Weiberkarre? Was sonst?“
„Die Weiberkarre will ich überhört haben. Aber das ist kein Auto, sondern eine rollende Müllkippe, Gott sei Dank bin ich so schlampig! Ich hab ja noch gar nicht geschaut, was da noch alles herumliegt. Komm, vielleicht ist das wie Weihnachten – und wenn ich bloß eine alte Zeitung finde, zum Lesen...“
Seine Augen funkelten. Also war ihm auch langweilig!
Wir schaufelten meinen Wagen so gierig frei, als müssten wir liebe Freunde aus einer Lawine retten und stürzten dann fast gleichzeitig hinein, ich nach vorne, er nach hinten. Ich riss sofort das Handschuhfach auf. Eine halbe Rolle Pfefferminz, eine angebrochene Tüte Gummibärchen, drei verformte Multivitaminbonbons, ein sehr alter Schokoriegel. Gigantische Ausbeute! Auf dem Boden vor dem Beifahrersitz lag die ungelesene Süddeutsche vom Donnerstag. Wieso hatte ich die ins Auto gelegt? Ich warf alles in den Korb, den ich voller Vorfreude mitgenommen hatte.
„Tarek? Was hast du?“
„Eine Wolldecke und eine Tüte mit drei etwas faltigen Äpfeln.“
„Lass sehen! Ach, das sind Golden Delicious, die kann man noch essen. Wenigstens ein paar Vitamine. He, da steht doch eine Tüte hinter dem Beifahrersitz, zieh die mal hoch!“
Ich las die Aufschrift – ein Kosmetikkonzern.
„Wenn wir Pech haben, ist eine Flasche Schaumbad drin. Neujahrsgeschenk für alle Mitarbeiter, hatte ich ganz vergessen. Wenn wir Glück haben, kann man den Inhalt trinken!“
Ich riss ihm die Tüte aus der Hand. Die Flasche war verpackt, viel versprechend verpackt. Ich schwenkte sie.
„Guck bloß? Wir können uns um Mitternacht besaufen – Sekt, und sogar ein ordentlicher!“
Er strahlte. Und außerdem? Eine Schachtel, in Firmenpapier eingeschlagen. Ich zerrte es herunter. „Pralinen, nicht ganz so ordentliche, aber sicher essbar. Mal was anderes! Du hast nicht zufällig italienische Salami oder so was in deinem Wagen vergessen?“
„Das hätten wir gestern schon gerochen. Leider räume ich mein Auto pausenlos auf, ich bereue es jetzt bitter. Die Einkäufe vom Mittwoch hätte ich jetzt wirklich gerne, vor allem die Fischkonserven.“
„Hmm, ja – Matjes in Mayonnaise oder so, das würde das ewige Knäckebrot wirklich aufwerten. Da kann man nichts machen. Siehst du im Kofferraum noch was?“
„Nein, nur den Reservereifen und die Ketten.“
„Schade.“
Wir breiteten unsere Beute auf dem großen Tisch aus und beschlossen, um neun zu Abend zu essen – Äpfel, Pralinen, Gummibärchen und eine Tüte Chips - und kurz vor zwölf den Sekt aufzumachen. Aber zuerst mussten wir wieder einmal einheizen. Ich stellte zur Feier des Tages mehr Teelichte auf, die konnten die Wärme auch noch steigern.
„He – und ich hab ja ein paar Raketen dabei!“
„Also eigentlich haben wir jetzt alles, was wir brauchen, abgesehen vom Schaumbad und vom Schnitzel.“
„Dusche und Hendl“, widersprach er schon wieder.
„Pass auf“, schlug er dann vor, „wenn die uns am Dienstag hier herausholen – an morgen glaube ich nicht so recht -, dann kehren wir unterwegs ein und schlagen uns den Bauch mit frittiertem Mist so richtig voll.“
„Au ja!“
Der Gedanke munterte mich gewaltig auf. Ich machte es mir mit einem neuen Kaffee und der Zeitung gemütlich, nachdem ich Tarek großzügig den Sportteil überlassen hatte – so was las ich ohnehin nicht. Als ich alles durchhatte, inklusive der mazedonischen Innenpolitik und der Briefe an den Bayernteil, aber ohne die Anzeigen, war es schon fast Zeit fürs Abendessen. Gemeinsam deckten wir den Tisch so schön wie möglich – mit dieser Souvenirsammlung war nicht viel möglich und den Sekt würden wir stilecht aus alten Senfkrügen trinken müssen - machten uns ein bisschen frisch und aßen dann feierlich zuerst Äpfel, Chips und Gummibärchen. Um die weißen stritten wir uns, die gelben hoben wir für eine ganz arge Hungersnot auf. Danach lösten wir unter viel Gezänk das Kreuzworträtsel in der Zeitung und spielten schließlich Karten und futterten dabei die Pralinen. Heute stellte er sich schon intelligenter an, ich konnte ihn nur mit Mühe abhängen – und dann scheiterte ich mehrmals an zwei Runs und einem Set, so dass er an mir vorbei zog und ich schon wieder überlegen musste, wie ich ihn beleidigen konnte. Ach nein, ich sollte es mir verkneifen, sonst nahm er den Sekt in sein Schlafzimmer mit und ich schaute in die Röhre. Und für die Raketen brauchte ich ihn auch. Also stichelte ich nur ganz vorsichtig und nahm die Retourkutschen gelassen hin.
Читать дальше