Zuerst kümmerte ich mich um mein Gesicht. Ich hatte mich gestern Abend nicht mehr abgeschminkt und das wollte ich jetzt nachholen, am besten ohne einen genaueren Blick in den Spiegel.
Erst nach der Dusche, die ich natürlich auch nutzte, um die Beine, die Achseln und alles andere zu rasieren, wischte ich den Spiegel sauber und begann die Inspektion meines Spiegelbilds. Meine dunkelroten Naturlocken hingen mir über die Schulter – in Hamburg trug ich sie immer fest im Dutt oder streng zurückgeklemmt und glattgeföhnt. Meine grünen Augen lagen etwas zu tief in den Augenhöhlen und standen zu nah beieinander, zumindest hatte mir das eine Kosmetikerin gesagt und mir Tipps gegeben, wie ich das mit der richtigen Schminke korrigieren konnte, von meinen Sommersprossen ganz zu schweigen. Aber ich wollte heute ein neues Leben beginnen und wieder ein bisschen zurück zu der Frau finden, die ich hier zurückgelassen hatte. Also schminkte ich nur meine Augen ganz dezent und fasste die Haare in einem locker geflochtenen Zopf zusammen. Meine Angeberhandtasche passte nun so gar nicht mehr zu meinem Outfit, also verzichtete ich darauf und stopfte mir mein Handy, ein paar Euroscheine und die Schlüssel in die Jackentaschen. Ein letzter Blick in den Spiegel ließ mich laut auflachen. Mein klassischer schwarzer Mantel passte so gar nicht zu Jeans und Shirt, aber das konnte ich jetzt nicht ändern. Ich beschloss, die nächsten Tage einfach mal in den Tag hineinzuleben!
Ein Blick auf mein Handy zeigte mir, dass ich ungefähr eine Stunde für alles gebraucht hatte, inklusive eines halbwegs genießbaren Kaffees – ja, ich war auch ein Kaffeesnob, aber das würde ich auf gar keinen Fall abstellen können.
Ich verließ die Wohnung und tat etwas, was ich schon ewig nicht getan hatte – ich wanderte plan- und ziellos durch die Straßen meiner alten Heimatstadt, ließ mich treiben. Wobei treiben relativ war, denn außer ein paar Menschen auf dem Weg zur Arbeit und Lieferwagen war noch nicht viel los. Die meisten Geschäfte hatten noch geschlossen. Ab und zu kam mir eine mehr oder weniger gestresste Mutter mit Kinderwagen und ein bis zwei weiteren Kindern entgegen, wohl auf dem Weg zum Kindergarten oder irgendeiner Spielgruppe. Wie gesagt, zum Einkaufen war es zu früh, außer vielleicht Lebensmittel, denn die Supermärkte öffneten mittlerweile auch in unserem beschaulichen Städtchen um acht oder sogar um sieben Uhr. Wann war das Leben eigentlich so schnell und hektisch geworden? In einer bereits geöffneten Bäckerei besorgte ich mir einen doppelten Cappuccino – nachdem ich vorher durch einen Blick ins Schaufenster sichergestellt hatte, dass sie eine gute Maschine hatten. Dann setzte ich meinen Bummel fort, ab und zu verfiel ich in den typischen „Business – Stechschritt“, rief mich aber immer relativ schnell wieder zur Ruhe. Um mich selber zu disziplinieren, fing ich an, mir Schaufenster von Läden anzusehen, um die ich in den letzten Jahren einen großen Bogen gemacht hatte. In Gedanken begann ich mich neu einzukleiden, denn wenn ich einen Neuanfang starten würde, dann auch einen richtigen. Ob der Neustart hier stattfinden würde, das wusste ich noch nicht, nach Hamburg zurück würde mich mein Weg nicht führen und die Sache mit der Karriere konnte ich wohl auch abhaken. Wobei ich mir ernsthaft auch nicht mehr sicher war, ob ich das überhaupt noch wollte. Ich war seit ganzen 48 Stunden aus der Tretmühle heraus und ich vermisste … nichts! Im Gegenteil, ich fühlte mich so frei, wie schon lange nicht mehr.
Wo auch immer ich in den nächsten Jahren arbeiten würde, im Moment konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, nochmal die Sachen zu tragen, die sich in den letzten Jahren in meinem Kleiderschrank angesammelt hatten.
Auf dem Rückweg zum „Mr.Van T.“ sah ich ein interessantes Geschäft – es war keine dieser Markenboutiquen und auch kein Billigladen. Es wirkte eher wie ein stylischer Laden mit ausgewählten Stücken verschiedenster Labels, darunter viel Jeans. Die Sachen sahen chic, aber bequem, lässig und auch ein bisschen edel aus. Das würde ich mir nachher mal genauer ansehen. Vielleicht konnte ich hier ja einen Grundstein für mein neues äußeres Ich legen?
Als ich wieder vor dem „Mr. Van T.“ stand, war ich erstaunt, dass ich fast zwei Stunden ziel- und planlos durch die Straßen der Innenstadt gelaufen war. Ob das an den 17 Stunden Schlaf oder meiner neu gefundenen inneren Ruhe lag, das mochte ich nicht entscheiden. Michael hatte in seinem kurzen Brief geschrieben, dass ab zehn Uhr wieder jemand im Studio wäre, nicht, wer von ihnen. Ich musste mir selber eingestehen, dass ich hoffte, dass es nicht David alleine wäre, denn ich hatte ihm gegenüber immer noch ein schlechtes Gewissen. Außerdem hatte ich sowas wie Flashbacks, nicht, dass ich jemals harte Drogen oder so genommen hätte, aber es gab so Situationen, die brannten sich einem ins Gedächtnis. Meist waren das Ereignisse, bei denen man sich bis auf die Knochen blamiert hatte. Das konnte Jahre her sein, aber dann passierte irgendetwas und man fand sich in Gedanken genau wieder in dieser Situation und bei meinem Glück wurde ich dann immer auch direkt rot. Und immer, wenn ich an David und unser erstes Aufeinandertreffen dachte, dann war ich wieder zurück. Oh Gott, ich hatte mich an Michael rangeschmissen wie eine rollige Katze und das unter Davids spöttischem Blick. Er hatte Michael keine zehn Minuten vorher zum ersten Mal gesehen und trotzdem schien er damals schon gewusst zu haben, was sonst keiner auch nur geahnt hatte – dass nämlich auf lange Sicht er der Mann an Michaels Seite sein würde. Und auch, wenn Michael mich selten mit Aufmerksamkeit bedacht hatte, ich hatte mich wieder und wieder an ihn rangemacht. Auch das hatte David fast jedes Mal mitbekommen. Allein der Gedanke an diese Zeit ließ mich aufstöhnen. Wenn ich mal genug Mut hatte, dann würde ich dieses Gespräch mit David führen und mich wirklich und aus tiefstem Herzen bei ihm entschuldigen und dann hoffen, dass ich mir auch irgendwann selber verzeihen konnte.
Also richtete ich mein Krönchen und öffnete die Tür … und mich empfing das totale Chaos! Überall standen Kisten und Körbe rum, das Telefon klingelte, zwei Kunden standen am Tresen, eine Frau saß auf dem Sofa an der Wand und blätterte in einem Magazin. David redete scheinbar mit dem Lieferanten, Michael führte ein Gespräch am Handy, von Sascha keine Spur. Also krempelte ich innerlich meine Ärmel hoch, zog den Mantel aus und ging ans Telefon.
„Studio Mr. Van T., Dana hier, was kann ich für dich tun?“
Ich bekam ein dankbares Lächeln von David und einen erhobenen Daumen von Michael, also machte ich weiter.
Nachdem ich das Telefonat beendet hatte, wendete ich mich den beiden Männern am Tresen zu, legte für die beiden Vorgesprächstermine fest und kümmerte mich dann um die junge Frau, die auf der Suche nach einem Piercing war. Als ich auch damit fertig war, wendete ich mich David zu, der gerade seinen Gesprächspartner verabschiedet hatte und sich genervt durch die Haare fuhr.
„Kann ich dir helfen?“
Er schien mich erst jetzt wieder richtig wahrzunehmen.
„Was? Ja, wenn du magst, schon. Diese Lieferung sollte eigentlich heute Abend ankommen, Micha und ich hatten uns extra keine Termine dahin gelegt, denn das ist immer viel Arbeit! Die Lieferscheine müssen überprüft, abgehakt und ins System eingegeben werden. Und anschließend muss alles ins Lager sortiert werden. Außerdem sind in den Körben neue Piercingstecker, die müssen auch noch in die Vitrinen und Schubladen sortiert werden …, ein abendfüllendes Programm, kann ich dir sagen! Allerdings haben wir alle heute volle Terminpläne und Sascha hat sich einen Tag freigenommen und …“
„Stop, hol erstmal Luft, David! Du bist ja völlig unentspannt, so kenn ich dich ja gar nicht! Zeig mir kurz das Programm, den Rest werd ich schaffen und wenn ich Hilfe brauche, dann melde ich mich, okay?“
Читать дальше