Als ich die Tür hinter mir zuzog, sah ich David am Treppenaufgang stehen. Er hatte ein wissendes Lächeln auf den Lippen. „Na, du Papabär, setzt mal wieder dein Beschützerinstinkt ein?“
Ich knuffte ihn spielerisch in den Oberarm, ich wusste, dass er es nicht ernst meinte, dazu kannte ich ihn viel zu gut.
„Mensch, David, hast du ihre Augen gesehen? Sie war völlig fertig, müde, traurig, ohne Leben. Ich weiß, du hast Dana damals nicht besonders gut gekannt, aber diese Frau ist so total anders. Wir werden uns ein bisschen um sie kümmern. Ihre Eltern haben nur noch eine kleine Mietwohnung, da kann sie nicht hin und wenn man die Größe ihres Koffers und ihr Äußeres betrachtet, dann ist sie nicht wegen eines geplanten Besuchs hier. Irgendetwas ist mächtig schief gelaufen in Hamburg - warum sollte sie sonst nach Hause kommen?“
„Du bezeichnest gerade unser Studio als ihr Zuhause – du bist süß, weißt du das?“
Ich musste grinsen, nur mein Mann konnte auf die Idee kommen, mich als süß zu bezeichnen, sonst wählten die Menschen immer eher ziemlich gegenteilige Attribute für mich. Ich zog ihn an mich und küsste ihn ausgiebig, bevor wir gemeinsam nach unten gingen und uns um unsere Kunden kümmerten, die von Sascha abgelenkt worden waren.
Ich drehte den Zündschlüssel des Mietwagens und machte damit den Motor aus. Ich hatte mich am Flughafen für einen unauffälligen Kombi entschieden, es musste ja nicht gleich jeder wissen, dass ich wieder im Lande war. Es würde sich leider schnell genug rumsprechen. Wobei hier fast nur noch ältere Menschen lebten und denen war ich zum Glück ziemlich egal. Meine Eltern hatten ihr Haus vor über 30 Jahren in einem Neubaugebiet gebaut. Damals wohnten hier viele Familien mit kleinen Kindern, so auch meine Eltern mit mir und meinen zwei Brüdern. Die meisten waren mittlerweile verrentet, die Kinder natürlich aus dem Haus und nur ab und zu kamen die Kinder von damals zu Besuch. So wie ich heute. Wobei – Besuch konnte man es eigentlich nicht nennen. Immer, wenn es ging und wenn ich Zeit hatte, kam ich hierher zurück. Leider war ich lange nicht hier gewesen. Unsere Tour hatte diesmal fast vier Monate gedauert, wir hatten auf einigen Festivals gespielt, unser letztes Lied war über Nacht in den Top Ten und dann tatsächlich auf Platz 1 gelandet. So mussten wir noch eine Promotour mit gefühlten 1000 Interviews hintendran hängen. Nun war ich einfach nur müde und urlaubsreif. So geil es war, dass wir - also meine drei Bandkollegen und ich - so viel Erfolg hatten, wir spürten bereits jetzt die Schattenseiten des Ruhms. Vorher hielten sich die Groupies noch zurück, es waren auch nicht so viele. Wir hatten vor ein paar Jahren unser Hobby zum Beruf gemacht und es in der näheren Umgebung geschafft, ein paar kleinere Säle zu füllen. Durch einen Wettbewerb eines Radiosenders spielten wir plötzlich überregional und eine Plattenfirma wurde auf uns aufmerksam. Und vor einem Jahr dann änderte sich unser Leben komplett, als unser Studioalbum Goldstatus erreichte, wahnsinnige 100000 verkaufte Scheiben. Wir waren völlig hin und weg gewesen und die anderen drei schwammen auf der Welle des Erfolgs, hingen mit Groupies ab, veranstalteten Partys, machten sich als Bad Boys einen Namen. Ich machte mit, aber im Rahmen, denn ich hatte zu dem Zeitpunkt schon eine große Verantwortung. Natürlich wurde ich mit meinen Kumpel in einen Topf geworfen und ich musste zugeben, dass ich auch nicht alles ausließ, was sich mir anbot. Ich war ja schließlich auch nur ein Mann! Als die Termine mehr wurden und ich immer öfter von zu Hause weg musste, meist für ein oder zwei Wochen, zog ich die einzig logische Konsequenz: Ich kündigte meine Wohnung und bezog die obere Etage bei meinen Eltern, denn alleine schaffte ich das nun nicht mehr. Zum Glück waren sie beide noch fit, mein Vater stand kurz vor der Pensionierung und meine Mutter hatte damals entschieden, dass sie ihren Job als Verkäuferin an den Nagel hängen würde, um mir zu helfen. All meine Argumente, dass sie das nicht müsse und dass ich sie auch bezahlen würde, tat sie mit einem Lächeln ab.
„Junge, ich bin 60 und habe im Grunde schon länger darüber nachgedacht, die Stelle zu kündigen, es macht mir nicht mehr so viel Spaß wie früher, es wird auch immer anstrengender, die ganze Zeit auf den Beinen zu sein. Dein Vater verdient gut und ich habe Freude daran, mich um euch zu kümmern, wer weiß, wie lange ihr mich noch braucht und wie lange ich es noch so kann!“ Gesagt, getan und so waren wir bei ihnen eingezogen. Ich verbrachte so viel Zeit wie möglich zu Hause und meine Eltern hatte es geschafft, mich mindestens alle zwei Wochen zu besuchen. Trotzdem war es mir zu selten. Ich war hin- und hergerissen zwischen der Musik und meinem Leben. Denn das war er, Ben war mein Leben!
Ich war kaum aus dem Auto ausgestiegen, als mein Leben auch schon aus der Haustür gerannt kam – natürlich im Schlafanzug, meine Mutter folgte ihm lächelnd und langsam.
„Paaaaaapaaaaa – da bist du ja endlich! Oma und ich haben dich im Fernsehen gesehen. Das war sooo cool, ich hab es aber nicht im Kindergarten erzählt, Oma hat gesagt, das wolltest du nicht so gerne!“
Woher ein Fünfjähriger seine Energie nahm, war mir nicht immer ganz klar, aber im Moment freute ich mich einfach, ihn sehen und festhalten zu können. Er warf sich in meine Arme und presste sich eng an mich. Ich sog seinen Geruch ein, kleine Kinder rochen wundervoll oder vielleicht empfanden das nur Eltern so. Vielleicht müffeln sie für andere Menschen auch, für mich war es der schönste Geruch der Welt. Ben roch nach zu Hause, nach Sonne und Schokolade und das auch an einem ziemlich trüben Novembernachmittag. Gott, wie ich den kleinen Kerl vermisste, wenn ich unterwegs war. Aber mitnehmen konnte ich ihn auch nicht. So war die Lösung mit meinen Eltern das Beste, was ich ihm bieten konnte. An Bens Mutter konnte ich mittlerweile ohne bitteren Nachgeschmack denken, das war anfangs anders gewesen. Doch jetzt war ich ihr dankbar für diesen kleinen Kerl und ich war froh, dass sie uns in Frieden ließ. Wobei meine Anwältin mich neulich gewarnt hatte, sie befürchtete, dass sie mit meinem Erfolg noch mal von sich hören lassen würde. Bisher war alles ruhig, aber wer wusste schon, was die Zukunft so bringen würde?
Inzwischen hatte meine Mutter uns erreicht: „Hallo, mein Junge, schön, dass du endlich da bist. Ben war kaum zu bändigen seit deinem Anruf vom Flughafen. Komm erstmal rein, du siehst müde aus.“ Bei diesen Worten streichelte sie mir übers Gesicht und schüttelte missbilligend den Kopf, als sie die Bartstoppeln und die dunklen Augenringe wahrnahm.
Ich drückte ihr einen Kuss auf die Stirn – war sie schon immer so klein gewesen oder kam es mir nur so vor?
„Hallo, Mama, ich bin tatsächlich müde, aber ich wollte unbedingt heute hier sein und nicht erst morgen. Kannst du bitte die kleine Tasche nehmen, dann nehm ich diesen Klammeraffen und die Gitarre!“
Den Rest konnte ich später holen, wenn Ben schlief, aber nicht die Geschenke und die Gitarre.
Wir gingen direkt in die gemütliche Küche, wo meine Mutter natürlich den Tisch für mich gedeckt und meinen Lieblingskuchen gebacken hatte. Ich war so dankbar, dass ich heulen könnte. Die letzten Monate waren echt anstrengend gewesen!
Ein paar Stunden später und viel später als normal, hatte ich Ben ins Bett gebracht. Er hatte mich gar nicht gehen lassen wollen und ich musste ihm versprechen, dass ich morgen auch noch da sein würde. Wenn alles gut ging, dann würde ich mit wenigen Ausnahmen bis Anfang März zu Hause sein. Dann stand eine neue Tour an, aber solange gab es nur ein paar Promoauftritte und ansonsten hatten wir uns hier ein Musikstudio angemietet und wollten an unserer neuen Platte arbeiten.
Meine Eltern saßen im Wohnzimmer, als ich in den Raum kam, schaltete mein Vater den Fernseher aus.
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