Weil du verzweifelt bist, Dana, eine Schulter zum Anlehnen und einen Platz zum Ausruhen brauchst und deine Eltern nicht beunruhigen willst.
Ich hatte mich in Hamburg in den Zug gesetzt, war hier ausgestiegen und meine Füße hatten wie von selbst den Weg zum Tattoostudio gefunden. Doch im Grunde war es eine Schnapsidee gewesen. Ich seufzte tief und griff nach dem Bügel meines großen Trolleys. Ich sollte mir erstmal ein Hotelzimmer suchen, durchatmen und dann etwas überlegtere Entscheidungen treffen. Eigentlich war ich gar nicht so, normalerweise plante ich meine Züge besser, so kopflos und nur aus dem Bauch heraus hatte ich seit Jahren nicht agiert!
Ich drehte mich zum Gehen, vielleicht würde ich mich in den nächsten Tagen mal bei Michael melden. Ich brauchte ein Hotelzimmer, ich musste aus diesem verschwitzten Businesskostüm raus und die Schuhe brachten mich auch um.
„Dana – bist du das wirklich?“
Ups – ich war wohl zu lange vor dem Laden stehen geblieben. Ich zog den Kopf ein und wagte einen Blick über die linke Schulter. Da stand David – ein Bild von einem Mann, immer noch. Die
Jahre waren sehr gut mit ihm umgegangen. Er wirkte nicht mehr so jungenhaft wie vor zehn Jahren, alles an ihm schien kantiger, männlicher geworden zu sein. Er hatte eindeutig mehr Tattoos als damals, aber seine Liebe zu Farbe war geblieben. Seine blonden Haare waren an den Seiten rasiert, er sah gut aus – kein Wunder, dass Michael sich damals in ihn verliebt hatte.
„David – hallo, ich …“
„Was treibt dich hierher?“, fiel er mir ins Wort und kam auf mich zu.
„Wir haben uns ja ewig nicht gesehen, wolltest du uns besuchen? Micha wird sich freuen, dich zu sehen.“
„Bist du da sicher?“
„Klar, warum denn nicht, ihr kennt euch doch schon so lange.“
„Und was ist mit dir – hast du ein Problem damit, dass ich hier bin?“
„Wieso sollte ich? Ach, du meinst wegen damals? Dana, das ist ewig her, beinahe schon in einem anderen Leben. Du glaubst doch nicht wirklich, dass mir das noch irgendetwas ausmachen würde? Wir haben tatsächlich erst vor ein paar Wochen noch von dir gesprochen. Aber komm doch erstmal rein, hier draußen ist es ungemütlich. Magst du einen Kaffee? Micha hat noch 'nen Kunden, aber das dauert nicht mehr lange!“
Und so fand ich mich tatsächlich keine fünf Minuten später in der kleinen Küche des Studios wieder, mit einer Tasse Kaffee in der Hand. Die Schuhe hatte ich ausgezogen – ich wusste zwar nicht, wie ich da jemals wieder reinschlüpfen sollte, aber das war mir egal. Ich genoss die Ruhe. David hatte mir kurz Gesellschaft geleistet und Smalltalk gehalten, dann klingelte aber das Telefon und er verschwand mit den Worten: „Sorry, unser Mädel für alles hat gekündigt und wir haben noch keinen Ersatz, es ist im Moment ein bisschen chaotisch!“
Ich nutzte die Zeit, um mich ein bisschen umzusehen. Ich war seit der Eröffnung nicht mehr hier gewesen, ich hatte mich für mein Verhalten geschämt und das trotz Michaels Versicherung, dass ich willkommen wäre.
Die Küche, die wohl auch als Aufenthaltsraum diente, wirkte gemütlich, ein bisschen chaotisch, denn überall lagen Skizzen und Stifte rum, Zeitungen und Zeitschriften. An den Wänden hingen Fotos – aber andere, als im vorderen Bereich des Ladens. Dort hatte ich den einen oder anderen Promi gesehen. Bilder mit Widmungen, es waren wohl Leute, die man kennen musste und die sich im „Mr. Van T.“ hatten tätowieren lassen. Da ich mich aber nie für Klatsch und Tratsch interessiert hatte, waren mir nur wenige bekannt vorgekommen. Außerdem hatte David mich direkt in die Küche gebracht, so dass ich die Bilder nicht wirklich hatte studieren können. Hier in der Küche hingen eher Momentaufnahmen von vielen verschiedenen Menschen. Pärchen, Familien, in ganz unterschiedlichen Situationen. Hier gab es Bilder einer Frau mit zwei Söhnen, scheinbar über viele Jahre hinweg aufgenommen. Die Frau hatte immer einen traurigen Zug um die Augen, ein neueres Foto zeigte diese kleine Familie zusammen mit einem jungen Mann und alle strahlten glücklich in die Kamera. Dann war da ein anderes Bild einer wunderschönen weißblonden Frau, die von einem dieser Modelltypen – getrimmter Bart, man bun, Anzug – umarmt wurde. Daneben hing ein Bild von einem Pärchen, sie saß im Rollstuhl, der tätowierte Mann daneben war verhältnismäßig klein, er hielt ihre Hand. Diese Personen waren alle in unterschiedlichen Bilder zu sehen – eins hatten all diese Menschen gemeinsam: sie sahen glücklich aus. Traurig musste ich mir eingestehen, dass ich in den letzten Jahren nicht viel Zeit in Freundschaften investiert hatte. Wohl mit ein Grund, warum ich jetzt hier bei meiner Exaffäre in der Küche saß.
Meine Gedanken wurden unterbrochen, als die Tür sich öffnete und eine der Frauen, die ich auf den Fotos gesehen hatte, in die Küche kam, oder besser gesagt rollte, denn es war die Frau im Rollstuhl.
„ …ja, ich warte in der Küche auf dich … Oh, Entschuldigung, ich wusste nicht, dass hier jemand ist.“
Ich weiß nicht, mit wem sie zuerst geredet hatte, der zweite Teil des Satzes galt auf jeden Fall mir. Ich stand auf – stimmte ja, ich hatte die Schuhe ausgezogen – und stellte mich vor: „Hallo, ich bin Dana, eine alte Freundin von Michael, David hat gesagt, ich könne hier warten.“
Sie strahlte mich freudig an: „Endlich mal ein Gesicht aus Michas dunkler Vergangenheit. Cool, da werde ich dich bestimmt mal interviewen. Ich bin Lucca und mein Freund Sascha arbeitet hier als Tätowierer. Er hat noch einen Kunden, dann wollen wir zusammen Mittag essen. Ich hab Reste von gestern dabei – hast du auch Hunger?“
In diesem Moment knurrte mein Magen wie als Antwort und mir fiel ein, dass ich seit meinem Abgang gestern Mittag wirklich nichts gegessen hatte. „Hunger habe ich, wie du hörst, schon, ich möchte euch aber nicht stören oder zur Last fallen!“
„Quatsch, wenn du hier sitzt, dann kannst du auch mitessen, so funktioniert unsere Familie nun mal!“
„Wieso Familie? Ich gehör doch nicht zu Michas Familie, ich bin nur eine alte Bekannte.“
Lucca lachte: „Das ist egal, die beiden Oberglucken Micha und David haben so die Eigenschaft, ihre Frauen um sich zu scharen und uns als ihre Familie zu bezeichnen – und wenn du hier sitzt, dann wird das einen Grund haben. Das hat mich das letzte Jahr gelehrt! Also, keine falsche Bescheidenheit, wenn du Hunger hast, bist du herzlich eingeladen. Wir haben genug, selbst, wenn mein Freund wie ein Scheunendrescher essen kann. Zur Not gibt es bestimmt noch andere Reste im Kühlschrank.“
Ich blickte von ihr zu den Bildern an der Wand. Das war es, was mich an diesen Bildern so angesprochen hatte, sie wirkten tatsächlich wie eine Familie, vor allem auf den Gruppenbildern. Als Einzelkind und besonders in den letzten Jahren hatte ich einen solchen Zusammenhalt nicht kennengelernt. Ich hatte auch keine Zeit dafür, ich lebte für die Firma und wenn ich nicht in der Firma war, dann trieb ich Sport. Natürlich lernte man da Menschen kennen, aber die hatten alle ähnliche Ziele wie ich, gut aussehen, sportlich, erfolgreich sein. Lauter „Dinks“ - (double income no kids), wenn sie überhaupt in einer Beziehung gewesen waren. Wir trafen uns in den richtigen Lokalen, gingen in die richtigen Clubs, hatten Sex mit den richtigen Menschen (oder, so wie ich, auch schon mal mit den falschen), trugen die richtigen Klamotten, sagten die richtigen Dinge, kannten die richtigen Personen. Aber echte Freundschaften, tiefe Gespräche oder gar Schwächen zeigen? Fehlanzeige! (Und wenn ich ehrlich war, dann wurde mir das alles erst jetzt klar, ich hatte bisher nie darüber nachgedacht!) Im Gegenteil, würden die meisten meiner sogenannten Freunde aus Hamburg mich hier jetzt so sehen, dann würden sie sich naserümpfend wegdrehen. Apropos naserümpfend – ich glaube, ich müffelte tatsächlich ein bisschen. Verstohlen versuchte ich an mir selber zu schnüffeln. Gott, hoffentlich hatte diese Lucca keine besonders gut ausgebildete Nase. Ich schielte zu ihr hinüber. Sie beobachtete mich ganz offensichtlich und lächelte mir nun freundlich und offen zu: „Lass mich raten, du hast ein paar echt harte Tage hinter dir, oder? Aber glaub mir, es gibt nichts, was eine gute Tasse Kaffee, eine Flasche Rotwein, ein heißes Bad und ein bisschen Zeit nicht wieder in Ordnung bringen können. Wie viel Zeit das ist, liegt an jedem selbst …“
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