Drittes Mannsches Bekenntnis
Ein weiteres Th. Mannsches Bekenntnis zur Elternschuld findet sich in dem von Erika Mann herausgegebenen Band „Klaus Mann zum Gedächtnis“. In dem von ihm beigetragenen Vorwort schreibt Th. Mann:
„Mein Herz ist ohne Bitternis, weil er zum Schluss nicht mehr unser gedenken konnte. Es fehlte nur, dass man von Undank spräche für ein so zweideutiges und schuldhaftes Geschenk, wie das des Lebens.“ (Mann, Mein Sohn Klaus, S. 11. Fund: GK)
Diese Formulierung ist natalethisch revolutionär; bestreitet sie doch, dass Kinder den eigenen Eltern Dank dafür schulden, von ihnen verursacht worden zu sein. Ganz im Gegenteil findet sich bei Mann eine
Natalschuldumkehr: Das Kind steht nicht bei seinen Eltern in der Schuld, weil es von ihnen das Leben geschenkt bekommen hat, sondern die Eltern stehen beim Kinde in der Schuld, da sie ihm mit dem Leben ein zweideutiges „Geschenk“ gemacht haben.
„Es ist unerträglich: dass ich es bin, der dir diese Welt beschert hat, dass ich es bin, der dir dieses entstellte Leben beschert hat.“ (Die Besiegten, zit. nach Sloterdijk, Versprechen, S. 26)
Als ein überaus bedeutendes Elternschuldbekenntnis ist van der Heijdens Roman „Tonio“ zu werten. Der „Requiemroman“ bricht gleich mit mehreren gängigen Tabus. Van der Heijden, dessen Sohn tragischerweise als Radfahrer bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, gesteht unumwunden und deutlicher als andere zu, sein Kind dem Tode ausgeliefert zu haben:
„Nach Tonios Geburt am fünfzehnten Juni 1988 galt es, die Konsequenzen zu akzeptieren. Ich musste zuschauen, wie ich den Jungen mindestens bis zum Erwachsenenalter beschützte, wärmte, nährte, kleidete, zur Schule schickte... Er hat mich nicht überlebt. Die Welt ist aus dem Lot, und dennoch muss ich die Konsequenzen meines ‚Kinderwunsches’ aus dem Jahr 1987 akzeptieren... Auch als Toten habe ich ihn voll und ganz zu akzeptieren – und für ihn zu sorgen. Ich wusste, dass ein Kind, das ich mir in den Kopf gesetzt hatte, sterblich sein würde, mochte es auch noch so gesund zur Welt kommen. Diese Sterblichkeit habe ich damals, mit Magenkrämpfen, hingenommen. Einkalkuliert. Ich hatte sogar das Risiko seines frühzeitigen Todes, so klein die Gefahr auch war, akzeptiert... Indem ich Tonio zeugte, war sein früher Tod eine der unwillkommenen Möglichkeiten, denen ich ihn auslieferte. Ich habe mit seinem Leben gespielt, und verloren.“ (van der Heijden: Tonio, S. 242f)
In Kantischer Manier (
Natalschuldumkehr) lässt der Autor seine Verantwortung für das Kind nur bis zu dessen Volljährigkeit gelten. Genau dies fechten wir an: Zwar wird ein Erwachsener eher für sich selbst sorgen können als ein Kind. Das Sterbenmüssen indes ist für den Erwachsenen ebenso ein Neganthropikon wie fürs Kind – wobei letzteres sogar zu Lebzeiten tröstender Eltern sterben „darf“, was den meisten Erwachsenen nicht vergönnt ist.
Wie groß die aufgeladene Verantwortung war, zeichnet sich für van der Heijden erst deutlich ab, als er sie nicht länger wahrnehmen kann. Aber, so fragen wir, was ist mit all den anderen „Kindern“, deren Eltern längst aus ihrer Verantwortung herausgestorben sind? In all diesen Fällen steht die Verantwortung gleichsam als nichtwahrgenommene und trägerlose im Raum. Sind sie nicht allesamt Menschen, die der unverbrüchlichen Gewissheit des Sterbenmüssens ausgeliefert wurden?
Aus van der Heijdens Betroffenheit spricht ein kaum je zur Sprache gebrachter Narzissmus. Der Tod eigener Kinder ist nur dann aufrührend, wenn er zu Lebzeiten erschütterter Eltern stattfindet. Müssten nicht alle Eltern permanent verzweifeln und aussprechen, dass das unabdingbare künftige Sterben ihrer Kinder die Wahrheit elterlichen Versagens ist? Oder äußert sich hier jene
Altersvergessenheit, die das Leben und Sterben alter Personen zu etwas ethisch Drittklassigem erklärt?
„Nein, ich nehme alle Schuld auf mich. In deinem grundwassertiefen, atemlosen Schlaf machst du mir keine Vorwürfe. Deine Reglosigkeit an sich ist eine große Beschuldigung an meine Adresse, auch ohne dass du das willst, denn du hast nichts mehr zu wollen. Dein Tod ist die Wahrheit über mein Versagen. Dein Tod ist die Summe meiner Fahrlässigkeiten.“ (A.a.O., S. 561)
Unter dem Aspekt ethischer Universalisierung müssten Eltern deklamieren: Deine künftige Reglosigkeit als 70- oder 90-Jähriger ist eine Beschuldigung an meine Adresse!
Haushofer, Marlen (1920–1970)
Marlen
Haushofer ist die Autorin des Letzter-Mensch-Romans „Die Wand“ (1963). Von ihrer Biografin, Daniela Striegel erfahren wir, dass ihre katholische Mutter ein Mutterschuldbekenntnis ablegt, als ihre Tochter Marlen 1970, mit 50 Jahren, im Sterben liegt: „Sie ist nicht mehr ansprechbar, leidet unter Krämpfen und fällt ins Koma. Am 19. März schreibt ihre tiefkatholische Mutter ihr: 'Ich denk mir immer, jede Mutter sollte ihre Kinder beim Kommen um Verzeihung bitten, dass sie in diese Welt kommen müssen.' Der Brief erreicht Marlen nicht mehr.“ (Strigl, „Wahrscheinlich bin ich verrückt...“, S. 328)
Dieses Absolution erbittende Mutterschuldbekenntnis ist aus gewöhnlicher Dankbarkeitsrhetorik steil herausragendes Dokument. Statt vom Kinde zu verlangen, es solle auch noch dankbar dafür sein, dass man es in die Gesellschaft der Krankheits- und Todgeweihten kommen ließ, sehen wir die übliche Dankesforderung bei Haushofers Mutter in ein Schuldbekenntnis transformiert. Wer sich als Existenzinitiator betätigte, hat keinen Anspruch auf Dank, sondern die Pflicht zu einer
(Wieder-)Gutmachung, die allerdings niemals ganz gelingen kann.
Herders (1744–1803) Weltankömmling
Mit seinem Gedicht „Die Wiege“ erweist sich – neben
Rousseau (1712–1778) – auch der Aufklärer Herder als früher Kritiker des jahrtausendealten und heute noch in manchen Kulturen verbreiteten Brauchs, Kinder in den ersten Lebensmonaten bis zur vollständigen Bewegungsunfähigkeit stramm in Stoff einzuwickeln. Herder antizipiert Kritikpunkte, die später von einem Hauptkritiker des Wickelns,
deMause, vorgebracht wurden und er registriert die damit einhergehende ungeheure akkumulierte Elternschuld.
Zu Recht deutet Herder die Gestalt des Wickelkindes als Ausdruck dafür, wie unwillkommen Kinder in einer Welt waren oder sind, in die sie zufällig oder als Manifestationen elterlichen Kinderwunsches geraten sind. Kaum angekommen, werde der Neuankömmling sogleich in Stoffbahnen gebunden, sodass sein Weg auf Erden einem Gang von Sarg zu Sarg gleiche. Herder plädiert für die Befreiung des Weltneuankömmlings aus seiner Zwangsjacke. Mit Rousseau vermittelt Herder: Der Mensch wird frei geboren, aber überall liegt er stramm gewickelt und gewindelt. Man solle ihn ent-wickeln, damit er das – vermeintlich (
Diktat der Geburt) – frei begonnene Leben dergestalt führen kann, dass es seinen Erzeuger späterhin nicht reut, das Kind ins Dasein gerufen zu haben (siehe die letzten Gedichtzeilen):
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