Am Ende mag sich herausstellen, dass wir indirekt dazu beigetragen haben, dass das aus der Vergangenheit bekannte Leid in fernerer Zukunft fortgesetzt wird, aber dies fällt gleichfalls nicht in den Bereich unserer Verantwortung, da wir nur für die Erziehung unsere eigenen Kinder verantwortlich zeichnen, die ihrerseits verantwortlich werden mögen.
Nichts ist determiniert. Erst wenn jemand beweisen könnte, dass gerade unser Kind nach einer Reihe von Jahren in einer ökologischen, atomaren oder kriegerischen Katastrophe leiden oder sterben müsste, würden wir heute vielleicht von der Fortpflanzung Abstand nehmen, wie wir uns eventuell auch nicht fortpflanzen würden, wenn bewiesen wäre, dass unser Kind aufgrund unserer genetischen Disposition schwer leidend zur Welt käme.
Wir sind aus eigener Erfahrung davon überzeugt, dass die angenehmen Seiten des Lebens die negativen Widerfahrnisse meist überwiegen und ausgleichen, weshalb wir auch für unser Kind eine positive Bewertung seiner Lebensqualität als wahrscheinlich voraussetzen dürfen.
Wenn es so wäre, dass das Gezeugtwordensein ein Diktat und nicht vielmehr ein Geschenk ist, so müsste es erstens viel mehr Menschen geben, die bekunden, sie hätten es vorgezogen niemals geboren worden zu sein. Und es müsste zweitens sehr viel mehr Menschen geben, die auf Grund ihres Niegewesenseinswunsches selbst keine Kinder zeugen. Da diese Haltungen unter den nun einmal Geborenen nur marginal verbreitet sind und das Dasein eher als Geschenk denn als Diktat erlebt wird, gehen wir davon aus, dass auch wir das Geschäft der Fortzeugung guten Gewissens betreiben dürfen.
Die im Laufe der Geschichte allmählich gewonnene Freiheit und Fertigkeit, nachkommenlos bleiben zu können. Nativistische Selbstentbindung des Menschen als allmähliche Abtrennung von der Nabelschnur des natürlichen Gattungszusammenhangs. Mit fortschreitender Elternfreiheit sind vermehrt Äußerungen wie die Folgende von Maarten 't Hart (*1944) zu erwarten: „Warum sich nach einem Sohn sehnen? Warum sollte ich jemanden diesem Leben aussetzen, dem man ohnmächtig ausgeliefert war, um das man nicht gebeten hatte, das einem vielmehr geschah?“ ('t Hart, Gott fährt Fahrrad, S. 25)
Eltern sind Personen, die sich dafür entscheiden konnten, Kinder zu haben. Ganz anders steht es mit den Kindern: Sie konnten sich nicht dafür entscheiden, (ihre) Eltern zu haben.
Gemeinhin gilt die Liebe, die Eltern ihren Kindern entgegenbringen als etwas Einmaliges, eine unbedingte Form der Liebe, da Eltern sich in Bescheidenheit üben und ihren Kindern den Vortritt lassen müssen. Doch schon Erich Kästner dichtete in seinem Gedicht das Riesenspielzeug in Anbetracht des Daseins, das zu fristen alle Kinder verurteilt sind: „Dass ihr uns liebt, das nützt uns nichts.“ (
Elternschuld
Kästner).
Die Rede von der Elternliebe suggeriert, das jeweilige Kind sei von fernher gekommen und nun sei es sehr rühmlich, dass Eltern sich seiner unbedingt annehmen. Man vergisst, dass Eltern die Urheber des Kindes sind. Das Ungenügen der Elternliebe zur Daseinsversöhnung lotet Marie Luise Kaschnitz subtil aus:
Kaschnitz, Marie Luise (1901–1974)
„Die Mutter spricht
Komm, sagt die Mutter, zur Welt, Kind. / Ich will dich nähren. / Wozu wir auf dieser Welt sind, / kann ich dir nicht erklären. / Das sagt dir der Vater morgen / oder irgendwann, / ich habe zu tun und zu sorgen, / mich geht’s nichts an. / [...] / Denn draußen ist sehr viel Böses, / weiß nicht, wo das Gute blieb. / Komm auf die Welt, Kind, sieh selbst, Kind. / Vergiss nicht: wir haben dich lieb.“ (Zit. nach Peter Härtling (Hg.), Lebensalter: Gedichte, S. 27f)
Kommentar: Ähnlich wie bei Kant (
Natalschuldumkehr), gilt Liebe der Eltern als vollständige Kompensation für die Zumutungen des Daseins. Die Mutter folgte der sich in die Kultur hineinmeldenden Natur, wurde von der Natur biogen vergewaltigt (
Vergewaltigung) und gebar; ist vorerst mit naturnaher Aufzucht vollauf beschäftigt, Gebär- und Nährwesen, das hierin für sich auf egoistische Manier den Sinn seines Daseins gefunden hat, sich in Gestalt des schreienden Säuglings jene zu übernehmende Verantwortung geschaffen hat, die laut Jonas Zwecke im Sein verbürgen. Die Vaterfigur – für die biologische Transzendenz zuständig, im Unterschied zur Mutter Kulturwesen – wird mit den transnatalen Fragen belastet, die dem Gebär- und Nährwesen Mutter fremd bleiben mussten. Schließlich die Aufdeckung eines subrationalen Zumutungszusammenhanges: Man lässt Kinder als Trostspender hervorgehen und mutet ihnen das Dasein in einer Welt zu, in der das Gute schimärisch bleibt, das Böse hingegen mit der vollen
Härte des Realen zuschlägt (
satanische Regel). Nun steht es da, das Kind, bald von den Eltern alleingelassen, gegen die Zumutungen des Bösen nichts im Gepäck als den kaschierten elterlichen Eigennutz.
Wer sich fortpflanzt, mutet den eigenen Kindern nicht nur das Dasein mit seinen Unwägbarkeiten und dem sicheren Sterbenmüssen zu, sondern zudem, mit dem Hinfälligwerden der Eltern fertigzuwerden. Ausnahmslos alle Eltern belasten ihre Kinder mit dieser Elternobsoleszenz.
Die Elternobsoleszenz kommt als neganthropischer
Grenzwert in Betracht, in Anbetracht dessen der Ausruf zu erwarten wäre: Ich hätte einen Weltlauf vorgezogen, in dem ich niemals existiert hätte, statt miterleben und künftig selbst durchmachen zu müssen, was mir meine Eltern vorgelitten haben.
Primortalität
Elternpflicht als Daseinsversöhnungspflicht
Gründet metaphysische
Elternschuld darin, dass Kinder notwendigerweise ungefragt zur Welt kommen, während es ethisch geboten wäre, sie zu fragen, ob sie dies möchten, so gründet Elternpflicht darin, den Hiatus zwischen dem Dasein des Kindes und seinem stets fraglichen Seinwollen nach Kräften zu kitten. „Wir schulden uns unseren Kindern“, schreibt Balzac in seinem Roman „Eugenie Grandet“ (S. 227). Kant brachte dies zum Ausdruck, indem er eine Umkehrung der Denkungsart begründete (
Natalschuldumkehr), wonach es nicht die Pflicht der Kinder ist, ihren Eltern für das eigene Dasein zu danken, sondern vielmehr die Pflicht der Eltern, ihre Kinder mit dem unerbetenen Dasein zu versöhnen. An die Stelle geforderter kindlicher Daseinsdankbarkeit lässt Kant elterliche Pflicht zur Daseinsversöhnung treten. Kant wird sich darüber im Klaren gewesen sein, dass eine vollständige Daseinsversöhnung etwas ist, was Eltern nicht zu leisten vermögen, eine unerfüllbare Pflicht also, die direkt zur Position des Antinatalismus führt. Weshalb er die elterliche Daseinsversöhnungspflicht nur bis zum Erreichen der Volljährigkeit gelten ließ.
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