Im Zeitalter der Information lebende Eltern wissen nicht bloß um die Verletzlichkeit ihrer Kinder, deren Zeugung oder Zurweltkommen sie relativ einfach hätten verhindern können, sondern auch um die wahrscheinliche Art und Weise ihrer Erkrankungen und ihres Sterbenmüssens. Sie nehmen all dies vielleicht mit ähnlichen Überlegungen in Kauf wie der Fleischesser das letztliche Sterbenmüssen von Nutztieren: „Aber vorher haben sie doch ein schönes Leben gehabt!“ und: „So schlimm ist es doch nun auch nicht!“ Dem widerspricht der Arzt Sherwin B. Nuland. Mit seinem Buch „Wie wir sterben. Ein Ende in Würde?“ wendet er sich nicht zuletzt gegen Standesgenossen, die unseren Sterbeprozess mit fadenscheinigen Angaben schönreden:
„Mich machen solche Behauptungen ratlos. Ich habe zu oft erlebt, wie Menschen qualvoll starben und wie ihre Angehörigen unter ihrer Hilflosigkeit litten, als dass ich meine klinischen Beobachtungen für eine Missdeutung der Wirklichkeit halten könnte. Die letzten Wochen und Tage der Mehrzahl meiner Patienten – das kann ich bezeugen – waren von Höllenqualen geprägt. [...] Eine gewisse Scham sorgt dafür, dass der Gedanke an ein elendes Ende verdrängt wird.“ (Nuland, Wie wir sterben, S., 214f) Um was für eine Art von Scham handelt es sich hierbei? Offenbar schämt man sich in Anbetracht Sterbender deshalb, weil man weiß, dass man an der Propagation der Lebens-Lüge beteiligt ist, unser Dasein sei ein Tanz auf Rosen und die Agonie des Lebensendes mehr als wettgemacht und zumutbar in Ansehung die genossenen Freuden. Schriftstellern gelingt es immer wieder die verdrängte Wahrheit in Worte zu kleiden:
„Wenn es soweit war, und daran dachte ich ohne Unterlass, erwartete uns ein klumpiges, pestverseuchtes Elendslager in einem zwielichtigen Krankenhaus, eine tägliche Folter, Kränkungen, Diebstahl unserer persönlichen Sachen, infizierte Nahrung. Allheilmittel mit abgelaufenen Gebrauchsdaten und brackiges Wasser, unaufhörlich quälende Erschöpfungszustände, steppenartige Wartezeiten in Zugluft an unmöglichen Orten, in nicht enden wollenden Untergeschossen oder weit abgelegenen Nebengebäuden, dann der Todesstoß in einer Nacht großen Röchelns, und die lange Agonie in eisiger Stille bis zum grauen Morgenlicht...“ (Boualem Sansal, Rue Darwin, S. 17f)
In dem Maße, in dem Eltern diesbezüglich informiert sind – und wer hätte nicht schon von den Höllenqualen und -umständen Sterbender gehört? –, nehmen sie auf dem Wege der Fortpflanzung schlimmste Agonien für die eigenen Kinder billigend in Kauf. Durch das Argument, die Kinder hätten doch vorher ein schönes Leben gehabt, schimmert eine einseitige Voreingenommenheit für die Gegenwart oder nähere Zukunft bei willkürlicher Ausblendung der ferneren Zukunft durch. Aber der Umstand, wann etwas erlebt wird, in diesem Fall „Höllenqualen“, verändert nicht die Qualität des zu Erlebenden. Dadurch, dass große Schmerzen erst am Lebensende zu durchleiden sind, werden sie nicht weniger grauenhaft. Zudem haben wir es hier mit einer verbreiteten Entwertung des Alters zu tun: Eltern rechtfertigen das nichthintergehbare Leiden und Sterbenmüssen ihrer einmal alt sein werdenden Kinder damit, dass es ja „nur“ alte Menschen sein werden, die da leiden.
Schöpfungsschuld als larvierte Elternschuld
Was Gottvater (
Gotteskindschaft) seinen Geschöpfen antat, indem er sie schuf, würde kein Mensch seinen Kindern antun. Dies vermittelt Franz Bergg (1866–1913) mit seinem Gedicht „Ungläubig“. Nach dem Ausgeschiedensein Gottes aus den seelisch-geistigen Haushalten zahlloser Eltern lastet allerdings die Schuld, bei klarem Verstande leidenwerdende Geschöpfte hervorgebracht zu haben, gänzlich auf ihnen als
Kleindemiurgen. Berggs Gedicht markiert einen der zahlreichen Übergänge vom Theodizeeverlangen zur Anthropodizeepflicht und, mit dem Ausbleiben von Theodizee und Anthropodizee, einen Übergang von der Gottesschuld zur Elternschuld:
„Ungläubig
Der du allwissend bist, / Du weißt, wie ich zu jeder Frist / Nach rechts, nach links mich entscheide; / Du weißt, noch eh sie geboren, / Ob die Milliarden erkoren / Zum ewigen Glück, zum ewigen Leide. / Doch schufest du Eva, du schufest mich, / Du schufest die Milliarden alle, / Zum Elend, weil zum Sündenfalle – / O das zu denken ist fürchterlich.
Hätt' ich, der Mensch, als mir zur Lust / Ein Kind geboren ward, gewußt, / Es werde geboren zur Sündenschand', / Es sei erkoren zum Höllenbrand, / Wenn auch durch seine Schuld, / Doch auch durch meine Schuld, / Wie sehr es mich in blutender Brust / Geschaudert, / Nicht hätt' ich gezaudert, / Erdrosselt hätt' ich's mit eigner Hand.
Du aber stößt uns in diese Welt, / Du weißt beim Kern, wie die Krone fällt, / Verdammst uns zu Qualen ohn' Ende / Und wäschst dir in Unschuld die Hände. / Wie unsre Seufzer dampfen, wie unser Jammer schreit / In Ewigkeit, in Ewigkeit, / Du lächelst in deiner heitern Seligkeit. / So tust du Milliarden, so tust du mir!“ (Bergg, Ein Proletarierleben, S. 231ff)
In diesem Gedicht läuft vieles zusammen: Bergg führt den Gott vor, der die Menschen schuf, wiewohl er ihre Taten und Untaten im Voraus kannte, den Gott, der sie ins Elend im diesseitigen und jenseitigen Leben stürzt. Ein Mensch, so Bergg drastisch in seinem Gedicht, wäre nicht so erbarmungslos wie dieser Gott, sondern hätte sein Geschöpf, kaum dass es zur Welt gekommen, aus Erbarmen erdrosselt, um ihm die Hölle zu ersparen.
Berggs Hölle wird die jenseitige sein, was bedeutet, dass an Gottes Gnadenwillkür Glaubende am besten keine Kinder zeugen, da jede Zeugung ein Spiel mit dem Jenseitsschicksal einer Person ist. Mit seinem Gedicht eröffnet Bergg aber zugleich auch die Perspektive einer
Dante-Transformation, wonach höllenmäßig das unsteuerbare diesseitige Leben sein kann, dem niemand die eigenen Kinder aussetzen würde. Dem gescheiterten Versuch, einen Gott zu rechtfertigen (Theodizee), der seine Geschöpfe wissend zur Hölle schickt, entspricht der gescheiterte Versuch (Anthropodizee), Menschen zu rechtfertigen, die ihre Kinder wissend unwissbaren Schicksalen und dem sicheren Sterben ausliefern.
In seiner „Panischen Elegie“ zeigt Wildgans feinfühlig auf, wie rasch und unversehens jeder, der sich als Sackgasse der natalen Verkettung wähnte, lustbionom doch wieder zu einem schuldbeladenen Anfang werden kann:
„[…] Wohl ein Jahrtausend ist's her, daß ich da unten verglomm!
Aus dem Dämmer der Kindheit — wie war es doch? — glitt mir die Seele
In den grelleren Tag, plötzlich war ich ein Mann.
Wurde selber zum Anfang, der ich ein Ende mir deuchte,
Kaum erst der Wiege entwöhnt, stand ich zu Wiegen gebeugt.
Und es gab der Verwirrungen viele, gab Ängste und Sorgen,
Und an dem Baume der Lust reifte als Ernte die Schuld.“ (Aus Wildgans‘ „Panische Elegie“, Gedichte, S. 146)
Busch, Wilhelm (1832–1908)
Entschieden humoristisch widerspricht Busch der religiösen Vorstellung, der Mensch habe sich nicht selbst gemacht. Stattdessen plädiert er für unsere Selbst-Verantwortlichkeit und rührt an den Schleier der Liebe, mit dem die Perpetuierung menschlichen Leids gerechtfertigt wird:
„Wolfenbüttel 23 Mai 75
Liebe Frau Anderson!
Sie sagen: Der Mensch hat sich nicht selbst gemacht. – Könnt‘ ich's doch glauben! – Ich glaube vielmehr, dass wir haftbar sind für unser Thun und Sein; besonders für das Letztere, welches das Erste ist. – So sind wir, so ist unser Charakter: eine ganz bestimmt geartete Kraft. Er kommt in's Handgemenge mit andern Kräften; man handelt; das Resultat erfolgt mit Nothwendigkeit; und wenn wir auch im Rechte sind, so thut uns dennoch zuweilen der »Rücken« weh. Man leidet eben, weil man da ist; das ist die Kern- und Wurzelsünde. – Ja, aber man hat sich doch nicht selbst gemacht! – Wie? – Ist nicht die Quelle unsers Daseins die Liebe? – Und nun sagen Sie mir einmal: Warum schämt sich die Liebe?
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