Der Thee ist ausgezeichnet. Darum segnet Sie von ganzem Herzen
Ihr Wilh. Busch.“ (Busch, Sämtliche Briefe. Band I, S. 143)
Aufgrund ihrer
Primortalität fällt es Eltern leicht auszublenden, dass aus ihren Kindern einst sieche Greise werden. Auch wenn Rilke im Folgenden mit dem „verhängten Weh“ nicht bewusst auf die Elternschuld angespielt haben wird, bringt er doch zum Ausdruck, dass die Erde genug an ihren Toten zu tragen hat und äußert sich somit tendentiell antinatalistisch:
Fragmente aus verlornen Tagen
„[…] wie Worte, welche nichts Bestimmtes meinen / und dennoch gehn, ins Ohr hineingehn, weiter / ins Hirn und heimlich auf der Nervenleiter / durch alle Glieder Sprung um Sprung versuchen, – / wie Greise, welche ihr Geschlecht verfluchen / und dann versterben, so daß keiner je / abwenden könnte das verhängte Weh, / wie volle Rosen, künstlich aufgezogen / im blauen Treibhaus, wo die Lüfte logen, / und dann vom Übermut in großem Bogen / hinausgestreut in den verwehten Schnee, – / wie eine Erde, die nicht kreisen kann, / weil zuviel Tote ihr Gefühl beschweren, […]“ (Rilke, Das Buch der Bilder, Werke, Bd. 1, S. 446)
Kästner, Erich (1899–1974)
In seinem Gedicht Das Riesenspielzeug verdeutlicht Kästner, welchen naheliegenden Existenznöten Eltern ihre Kinder sehenden Auges – und historisch informierten Geistes – aussetzen, am Beispiel allzeit drohender Arbeitslosigkeit. Am Phänomen der Arbeitslosigkeit erhellt, dass das Existenzdiktat (fast) immer auch ein Arbeitsdiktat ist. Wer existiert, existiert nicht einfach aus einem mitgegebenen Bestand heraus. Kästner setzt mit seinem Gedicht dort ein, wo Kant aufhört: am Ende des Erziehungsprozesses, wenn der mündig gewordene Weltbürger auf Gedeih oder Verderb genötigt ist, sich seinen eigenen Lebensunterhalt zu verdienen:
„Das Riesenspielzeug
Sind wir denn da, um nichts zu tun? / Wir, die gebornen Arbeitslosen, / verlangen Arbeit statt Almosen / und fragen euch: Und was wird nun?
Einst wusstet ihr noch euren Text, / als ihr uns noch für Puppen hieltet. / Doch wir sind Spielzeug, welches wächst!
Auf eigne Rechnung und Gefahr / will jeder, was er lernte, nützen. / Die Tage regnen in die Pfützen, / und jede Pfütze wird ein Jahr.
Die Zeit ist blind und blickt uns an. / Die Sterne ziehn uns an den Haaren. / Das ganze Leben ist verfahren, / noch ehe es für uns begann.
Vernehmt den Spruch des Weltgerichts: / Ihr gabt uns seinerzeit das Leben, / jetzt sollt ihr ihm den Inhalt geben! / Dass ihr uns liebt, das nützt uns nichts.“ (Kästner, Gedichte, S. 157f)
Existenzgeld
Ruinierte Existenz (Mistry)
In „A fine balance“ lässt der parsische Romancier Rohinton Mistry seine Leser den Gewinn der Einsicht miterleben, dass entscheidungsfreie Eltern als Urheber ruinierter Existenzen anzusehen sind:
„Once there is a wife, there will be children. Then there will be even more on your mind. Where will they all stay? And all those mouths to feed. How many lives do you want to ruin?“ (A Fine Balance, S. 467)
Ohnmächtige Abwehr der Elternschuld (Wildgans)
In seinem Versepos „Kirbisch oder Der Gendarm, die Schande und das Glück“ schildert Wildgans am Gegenstand des für die Welt(geschichte) einstehenden Dorfes Übelbach zahlreiche Facetten menschlicher Niedertracht. Anders als die absolute Mehrheit anderer Autoren schreckt er nicht vor der Frage nach einer Anthropodizee zurück. Zum Abschluss seines Versepos bietet er als Rechtfertigung für die weitere menschliche Fortpflanzung die Aussicht, jedes neue Menschenwesen könne sich ja aus seinen Träumen selbst eine Welt schaffen. Ohne diese realitätsferne Hoffnung würde sich jede Fortpflanzung mit Schuld in Ansehung der neuen Generation beladen:
„Dornen sind dir gesäet, und Steine werden dein Brot sein,
Ach, wo immer du gehst und wo immer du anklopfst. Denn siehe,
Übelbach ist ja ein Dorf nicht, in seiner Art einzig, kein Ausbund
Unter den Orten und Stätten der erdebewohnenden Menschen,
Übelbach ist ja die Welt, und die derbe Begierde, zu raffen,
Selber in Freveln zu blühn und die Unschuld büßen zu lassen,
Ist ja der Irdischen Art! Noch immer haben die Lauten
Leisere niedergeschrieen, die Rohen die Zarten geknechtet,
Schurken die Guten gemißbraucht! Noch immer auch ruhte das Schicksal,
Welches im Großen bestimmte die Lose der Menschengeschlechter,
Nicht bei den Weisen und Edeln! Nein, immer noch waren's die Gaukler,
Rollenerschleicher der Macht und Fälscher der hohen Begriffe,
Welche mit Lockung und Peitsche für dieses oder für jenes
Wahnwort die gläubige Herde von Schlachtbank zu Schlachtbank getrieben,
Und so werden sie's treiben, solange die Welt steht! Und dennoch:
Auch, solange die Welt steht, wird immer wieder ein reines
Kindlein geboren werden, um dessen willen der Herr die
Erde so schön gemacht und den Herzen die Hoffnung gegeben!
Und eine Mutter wie du – gegrüßet seist du, Maria! –
So es in Demut empfangen und hart und getrost in der Not ist,
Wird ihm die Brüste reichen, auf daß es lebe und stark sei,
Selbst eine Welt sich zu schaffen aus seinen Träumen! Denn anders,
Wenn wir an dieses nicht glaubten für unsere eigenen Kinder,
Wäre die Erde ein Ort der bloßen Verzweiflung, die Zeugung
Schuld nur am neuen Geschlechte, kein Frieden erlöste in Gräbern,
Und es verlohnte sich nicht, den Menschen die Leier zu rühren.“ (Wildgans, Kirbisch oder Der Gendarm, die Schande und das Glück, S. 215f)
Ähnlich wie
Sartre mit seinem Weihnachtsstück Bariona, gehört letztlich auch Wildgans zu den
Damnatoren – zu jenen Dichtern und Denkern, die zwar eine besondere Einsicht in die Conditio in/humana gewonnen und zum Ausdruck gebracht haben, die aber gleichwohl nicht von der Fortsetzung des Menschheitsexperiments abraten, sondern sich bereitwillig zu Komplizen seiner Fortsetzung machen.
Bekenntnisse auf Seiten von Eltern, die es nachträglich bereuen, den Existenzbeginn ihrer Kinder initiiert zu haben, werden rar sein, da Eltern sich auf ihre Unwissenheit betreffend die Kindesentwicklung berufen zu können glauben.
„Weh, weh, weh! dreimal weh! dass ich dich geboren!“, klagt in Kerners „Reiseschatten“ von 1811 die Mutter des Totengräbers und bietet damit einen Beleg für schlechtes Elterngewissen, das sich hier fiktional sedimentiert hat (zit. nach Rölleke, a.a.O., S. 20).
In Balzacs „Eugenie Grandet“ begegnen wir einem Elternschuldbekenntnis, das an die
Thrakische Trauer erinnert: „Diese Mutter schied mit Freuden aus dem Leben und beklagte nur die Tochter, weil sie noch leben müsse…“ (S. 213)
Wanda von Sacher-Masoch (1845–1933)
Ungezählte Mütter werden deutlich vor Augen gehabt haben, dass sie dem zu gebärenden Kind nicht so sehr das Leben auf lichter Welt schenken, als es vielmehr in den Halbschatten eines mit ungewissen Mitteln zu fristenden Daseins stellen. Zu einem entsprechenden veritablen Elternschuldbekenntnis rang sich Wanda von Sacher-Masoch in ihrer Lebensbeichte durch:
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