Hier erweist sich Schopenhauer als weniger radikal denn Kant: Kant hatte eigens die Zustimmungslosigkeit betont, mit der jeder von uns ins Dasein tritt, weshalb er von den Eltern nicht bloß die Versorgung der Kinder bis zur Selbsterhaltungsfähigkeit (wie wir sie ja auch aus dem Tierreich kennen), sondern eine Versöhnung der Kinder mit ihrem Dasein forderte. Schopenhauer hätte es angestanden, Kants Revolutionierung der nativistischen Denkungsart (nicht die Kinder sollen ihren Eltern Dankbar sein, sondern die Eltern verpflichtet, ihre Kinder so zu behandeln, dass sie das Dasein selbst gewählt haben würden), fortzudenken.
Unweigerlich wird jedes Kind zum Erwachsenen und schließlich zum Greis, der sich irgendwann selbst nicht mehr erhalten kann und schließlich – Beweis des sich nicht länger Erhaltenkönnens – stirbt. Insofern gilt: Da kein Mensch sich dauernd erhalten kann, sondern das Sicherhaltenkönnen nur eine vorübergehende Phase im Dasein eines jeden ist, stehen alle
Daseinstäter gemäß dem von Schopenhauer – wohl unwillkürlich – paraphrasierten Diktum Kants doppelt in der Schuld ihrer Kinder. Sofern Eltern zumeist bereits gestorben (
Primortalität) oder doch zumindest entkräftet sind, wenn der eigene Nachwuchs vergreist und selbsterhaltungsunfähig wird, bleibt die Zeugung von Menschen unverantwortlich: Kein Kind kann sich dauerhaft im Dasein erhalten, sondern immer nur vorübergehend.
Existenzbeginn als wiedergutmachungspflichtige Vergewaltigung (Rose Schwarz)
Dass Eltern generell in der Schuld ihrer Kinder stehen und nicht umgekehrt, erfasst klarsichtig Rose Schwarz: „Kinder werden niemals befragt, ob sie das Licht der Welt zu erblicken wünschen; ihre Zeugung und Geburt ist also bereits ein Vergewaltigungsakt, zu dessen Wiedergutmachung Eltern ein für alle Mal verpflichtet sind.
Sie sollen nach bestem Wissen und Willen für ihre Kinder sorgen und sie zu möglichst nützlichen Gliedern der menschlichen Gesellschaft erziehen. Diese Erziehung soll dem Kind dienlich sein, nicht den Eltern. Axiome wie 'Kinder haben sich völlig nach den Eltern zu richten' oder 'Eltern wollen von ihren Kindern auch was haben' sind, wenn auch nicht grade verbrecherisch, so doch immerhin albern.“ (Rose Schwarz, Das „Problemkind“ und die neue Schule, in: Die Weltbühne. 27/1931. Nr. 18, 5.5.1931, S. 649-651, hier S. 649. Fund: GK)
Dem wäre nur anzufügen, dass die Autorin das nativistische
Patt übersieht.
Blumenberg,
Entschuldigung, dass ich geboren bin!,
Kant
Blumenberg bedenkt Kant,
Komplizenschaft
Blumenberg
Elternschein und Elternschulung
Als einen wohlbegründeten Einstieg in den praktizierten Antinatalismus schlagen wir die Einführung eines Elternscheins vor. Beim Elternschein handelt es sich um eine Lizenz, wie sie den Angehörigen bestimmter Berufsgruppen – etwa den Heilberufen – standardmäßig abverlangt wird, bei deren Ausübung andere Personen schweren körperlichen oder seelischen Schaden nehmen können. Ein Elternschein wäre eine Lizenz, mit deren Erwerb Fortpflanzungswillige den Nachweis erbringen, zur Hervorbringung und Erziehung von Kindern geeignet zu sein. Zahlreiche Fachleute sind der Meinung, dass die Hervorbringung und Erziehung eines Menschen zu den verantwortungsvollsten und schwierigsten Aufgaben gehört; und doch werden Eltern weniger Qualifikationen abverlangt als einen Fahrzeughalter oder manchen Hundehaltern.
Die Einführung von Elternscheinen sollte in erster Linie dem Kindeswohl dienen, in nachgeordneter Hinsicht dem Wohle der Gesellschaft. Rücksichten auf das Kindeswohl gebieten es, dass der Elternschein Personen versagt bleibt, bei denen hochgradig wahrscheinlich ist, dass sie einem eigenen Kind seelischen oder körperlichen Schaden zufügen, obwohl sie an einer spezifischen Elternschulung teilgenommen haben.
Wem das Verlangen nach einem solchen Elternschein völlig abwegig und unvermittelt scheint, sieht sich sogleich korrigiert, wenn wir uns kurz vor Augen führen, dass Adoptiveltern eine solche Lizenz längst zu erbringen haben. Der Umstand, dass Adoptiveltern ihre Eignung zur Erziehung eines Kindes zuallererst darlegen müssen, führt zu beeindruckenden Ergebnissen im Sinne des Kindeswohls. Trotz des Traumas, das viele Kinder durchmachen, bevor sie adoptiert werden, werden adoptierte Kinder von ihren Adoptiveltern sehr viel weniger häufig misshandelt als Eltern ihre biologischen Kinder misshandeln: Das Verhältnis beträgt Eins zu Fünf. Und das, obwohl es heißt, biologische Elternschaft führe stets zu einem innigeren Band als „bloße“ Adoption.
Hunderte Millionen Kinder haben schwerst Alkohol- oder Nikotinabhängige, Psychopathen oder Gewalttäter zu Eltern. Wie kann es da sein, dass es bis auf den heutigen Tag keine das künftige Kindeswohl berücksichtigenden Fortpflanzungsauflagen gibt? Erzieherisches Totalversagen führt nicht allein die Kinder ins Elend, sondern beschert den Gesellschaften und der Menschheit insgesamt einen erheblichen Teil ihrer – auch auf diese Weise selbstgemachten – Probleme. Vor diesem Hintergrund ist es vielleicht nicht abwegig, wenn wir für alle Fortpflanzungswilligen nach einer Schulung verlangen, nach deren Bestehen der Elternschein als Zeichen der Kompetenz ausgestellt wird.{63}
Einen Elternschein antizipierend schrieb Ebner-Eschenbach in ihrem „Gemeindekind“: „Nicht jeder braucht einen Hausstand zu gründen; das ist der größte Wahn, dass man einige Kinder haben müsse – es gibt Kinder genug auf der Welt... und je besser ein Vater ist, desto weniger hat er von seinen Kindern – wer fühlt edel und selbstlos genug, um sich zutrauen zu dürfen, er werde ein guter Vater sein?“ (Ebner-Eschenbach, Das Gemeindekind, S. 253)
Adoption
In Jandls Gedicht Erziehungstraum hat das lyrische Ich , also das Kind, offenbar schlechte Erfahrungen gemacht und möchte die ihm schädlichen Erwachsenen-Rollen einmal gattungs-exemplarisch kontrafaktisch korrigieren: bitte nur in eine Welt menschenwürdiger Erwachsener hineingeboren werden.
„erziehungstraum
den vater zeugen / den vater gebären / den vater erziehen
die mutter zeugen / die mutter gebären / die mutter erziehen
die lehrer zeugen / die lehrer gebären / die lehrer erziehen
dann geboren werden“ (Hermann Jandl, leute leute, S. 21)
Elternschuld{64} bezeichnet eine nichthintergehbare Schuld, die alle Initiatoren menschlicher Existenz auf sich laden. Die Nichthintergehbarkeit der Elternschuld korrespondiert dem Umstand, dass ausnahmslos alle Kinder dazu verurteilt sind, die mit Geburt, Leben und Sterben einhergehenden Leiden durchzumachen. Das Maß der Elternschuld bemisst sich am Gegebensein antinatalistischer
Aufklärung und dem Stand der
Elternfreiheit, das heißt an der Wahlfreiheit, sich für oder gegen die Fortpflanzung zu entscheiden. Der Elternschuld haftet ein sozialgeschichtlicher Index an: Je verfügbarer Verhütungsmittel einerseits sind und je allgegenwärtiger Informationen über die Conditio in-/humana andererseits sind – die Gattungsselbstbekanntschaft –, desto erheblicher die Elternschuld. Die arme Frau im Niger oder in Bangla Desh heute oder die deutsche Fabrikarbeiterin um 1900 trifft weniger Elternschuld als die Männer ihrer Zeit oder als wohlhabende Westler um die letzte Jahrtausendwende, die Gelegenheit hatten, sich ausgiebig über Vergangenheit, Gegenwart und die wahrscheinliche Zukunft von Menschheit und Neugeborenen von der Krippe bis ins
Gerontolager oder Sterbebett im Krankenhaus zu informieren.
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