Der zeitweilig oder vielleicht auch dauerhaft glückliche Einzelne schwimmt wie ein kleiner Nachen auf vergangenem und gegenwärtigem Gesamtunglück, das ihn trägt und seine Fahrt ermöglicht, bis auch er untergehen muss. Wie aber lässt sich in dem Wissen gut leben, dass die eigene glückliche Existenz mit dem Gesamtunglück zu vereinbaren ist?
Neganthropie-Profiteure
Freud
Totschläger-Argument
Élan natal (Geburtsschwung)
Als philosophisches Rezept gegen die
Thanatalität (Todesgebürtlichkeit) veranschlagt Hanna Arendt in ihrem Werk Vita Actica oder vom tätigen Leben einen „Elan des mit der Geburt gegebenen Anfangs“ (S. 184). Jede Geburt eines Menschen wäre demnach einem Urknall vergleichbar, der eine lebenslange euphorisch expansive Vorwärtsbewegung bewirkt, die uns davor bewahrt, unserer Todesgebürtlichkeit voll ins Auge sehen zu müssen. Erst mit dem Erlahmen{62} eines solchen Élan natal – so ließe sich im Anschluss an Arendt spekulieren – gewönne der Lebensüberdruss Oberhand, ausgelöst vielleicht durch die
Elternobsoleszenz oder andere Schicksalsfälle.
Arendt,
Thanatalität
Eltern als Kleindemiurgen
Wie ein neues Ich, ein neues Bewusstsein aus nichtbewusster Materie hervorgeht, haben weder philosophische Reflexion noch naturwissenschaftliche Forschung zu erhellen vermocht. Das Hervorgehen eines neuen Bewusstseins mutet in seiner Rätselhaftigkeit an wie die Entstehung von Materie aus dem Nichts (
Creatio ex nihilo). Als Initiatoren des Hervorgehens von Subjektivität kommen Eltern leicht in die übermütige Versuchung, sich demiurgische bis schöpferische Fähigkeiten zuzuschreiben.
Einer der überzeugtesten Kleindemiurgen der Weltliteratur ist Vater Goriot, dessen Schöpfer Balzac ist. Zu einer seiner Töchter sagt Vater Goriot: „Ich bin der Schöpfer deines Glückes, wie ich der Schöpfer deines Daseins bin.“ Und zu einer dritten Person redet er in paradigmatisch grenzenloser Überschätzung seines Eigenanteils: „Nun, sehen Sie, ich habe diese reizende Frau geschaffen!“ (Balzac, Vater Goriot, S. 205)
„Wie kann man ohne Entsetzen und Abscheu an dieses Wunder denken, das aus dem nächsten besten einen Kleindemiurgen macht?“ (Die Verfehlte Schöpfung, A.a.O., S. 14) Laut Cioran besteht die kleindemiurgische Gottesähnlichkeit der Menschen in der Unfähigkeit, sich selbst nicht genug zu sein: „Wir alle haben sie geerbt, die Unfähigkeit, bei sich zu bleiben, von welcher der Schöpfer eine so bedauerliche Demonstration geboten hat.“ (Die verfehlte Schöpfung, S. 13) Auch an dieser Stelle begegnen wir der für Cioran typischen
Akkusationszurückhaltung.
Erst das eigene Kind schenkt dem niederländischen Schriftsteller van der Hejden das Selbstwertgefühl, dessen er bislang entbehren musste. Als Kleindemiurg spiegelt er die Sohneseigenschaften auf sich selbst zurück und gelangt so zur lange vermissten Selbstaufwertung:
„Tonio, das Schönste, was du mir geschenkt hast, ist Selbstwertgefühl. Bevor du in mein Leben tratest, musste ich jede Form von Selbstwertgefühl stets vortäuschen... Als ich dich in voller Entwicklung sah, wuchs bei mir der Stolz – auf dich natürlich, aber auch auf mich selbst. Ich stecke zu einem nicht unbeträchtlichen Teil in dir. Wer dazu beigetragen hatte, ein so großartiges Wesen hervorzubringen, musste selbst wohl ebenfalls einige Qualität besitzen.“(van der Heijden, 632) Nach dem Tod seines Kindes: „Der Tod Tonios hat folglich die Nutzlosigkeit meines Lebens bewiesen. Indem er starb, hat er seinen Vater achtlos wie einen Mantel abgeworfen.“ (van der Heijden: Tonio, S. 525) Hier redet nicht mehr der stolze Kleindemiurg, sondern der verschreckte
Daseinstäter, der wohl kühl davon ausging, er selbst werde bereits gestorben sein, wenn sein Sohn die von ihm (dem Vater) inaugurierte
Sterbenskatastrophe durchleiden muss.
„Nur Fatalisten kommen auf die verrückte Idee, sich fortzupflanzen. Als wäre dieWelt nicht schon unübersichtlich genug, zerrissen vom Generationskampf und Übervölkerungschaos. Und doch ist da ein Funke Hoffnung, der alle Skepsis zunichte macht: die Neugier zweier sterblicher Demiurgen auf eine Seele, die alle ihre Erwartungen übertrifft.“ (Grünbein, Das erste Jahr, S. 117)
Der Vater dieses klassisch-pronatalen Egoismus-zu-zweit-Gedankens mag die unbewusste Suche nach einer Strategie gewesen sein, den gnostischen Vorwurf abzuwehren, nur böse Demiurgen könnten in eine Welt wie die unsrige Kinder setzen. Was für die Gnosis ein mittels Zeugung verwerflicherweise in diese Welt eingesperrter, der göttlichen Heimat entrissener Seelenfunke ist, erscheint bei Grünbein transformiert als Hoffnungsfunke sterblicher Gestalten, die einen Menschen zu ihrer eigenen Unterhaltung verzwecken und zum Sterben verurteilen
Elternabsolution von der Verantwortung für ihre Leidensermöglichung (retrospektive Elternabsolution)
Wer sich für Kinder entscheidet, erteilt im selben Atemzug den eigenen Eltern Generalabsolution: Das von den eigenen Eltern zu verantwortende – sofern niemals ganz unwissentlich in Kauf genommene – Kindesleid wird von den sich fortpflanzenden Kindern umdeklariert und in die Sphäre des „Lebens als höherer Gewalt“ transponiert bzw. in einen vermeintlichen „natürlichen Lauf der Dinge“ integriert. Die sich fortpflanzenden Kinder ahmen die leidenschaffende Rolle ihrer Eltern nach und begeben sich im gleichen jedes Rechts auf Klage über eine „böse Welt“, in die man zustimmungslos hineingestellt wurde.
Hinter dem ausgeprägten Wunsch vieler Eltern, Großeltern zu werden, mag somit das Verlangen stehen, mit der Geburt des Enkels vom eigenen Kinde den lebendigen Beweis präsentiert zu bekommen, dass es sein Gezeugtwordensein billigt: Wer seinerseits Nachkommen hat, signalisiert den Eltern, dass das
Geschenk des Lebens durchaus zumutbar war (indem nämlich dieses Geschenk weitergereicht wird). Jede Person ist Kind und hatte Gelegenheit, das Leben zu prüfen. Pflanzt sie sich fort, bekundet sie, dass die sie zeugenden Eltern recht taten. In dem Maße, in dem dieser psychische Mechanismus triftig ist, stünde hinter dem Großelternwunsch nicht allein der Wille, zu sehen, dass es über den eigenen Tod hinaus „weitergeht“, sondern immer auch ein Wunsch nach Entlastung von dunkel empfundener
Elternschuld, der Wunsch nach Elternabsolution.
Читать дальше