„Will man alles das, was der Geist tut, um uns das Leben auf dieser Erde erträglich zu machen, um uns zum Ausharren zu bewegen, metaphysisch in einem Begriffe erfassen, so kann man sagen, dass er uns auf die verschiedenste Weise in einen Rausch versetzt und uns im Rausche uns und unser Elend vergessen lässt… Opium und Kokain, Wein, Bier und Schnapf, Spiel und Tanz, Liebe und Arbeit, Ruhm und Opferung, Begeisterung und Enthusiasmus: alles sind nur Mittel des Rausches, dem wir unser Ausharrren auf dieser Erde verdanken.“ (Sombart, Vom Menschen, S. 60)
Schopenhauer opponierend, ist es laut Sombart nicht der blinde Wille, der uns im Dasein festhält. „Sondern: ‚das Leben‘ – freilich das gebrochene Leben, wie es die Menschheit zu führen verdammt ist – fühlt sich hienieden keineswegs behaglich und froh: es würde, je eher, je lieber aus diesem Jammertale fliehen. Und nur der Geist ist es, der es – aus Gründen, die uns ewiges Geheimnis bleiben werden – an diese Erde mit tausend Banden fesselt. Es weiß es über sein Elend so geschickt hinwegzutäuschen, dass es seinem Drange, sich selbst zu endigen, widersteht, ja, dass die Träger dieses fragwürdigen Lebens, die Menschen, immer wieder zu der Überzeugung kommen: das irdische Dasein sei im Grund gar nicht so unerträglich, wie es ihnen erschienen ist. Das macht der Rausch, das macht der Zauber, aus dem sie sprechen.“ (Ebd.)
Sombarts Drogenthese sieht sich durch Überlegungen von Sarah Perry gestützt. Perry gibt den wichtigen Hinweis, dass die Frage „Sind Sie froh, dass Sie geboren wurden?“ viel zu direkt und zudringlich ist, als dass wir eine reflektierte Antwort erwarten könnten. Um zu sehen, ob Personen ihr Dasein in ihrem tiefsten Innern eher verneinen oder bejahen, müssen wir umwegiger vorgehen und nachsehen, ob und auf welche Weise Menschen es für nötig befinden, sich ihr Leben erträglich zu machen. Tun wir dies, so entdecken wir laut Perry ein breites Spektrum an daseinsrejektionistischen Verhaltensweisen, wie Drogenkonsum. Daseinsrejektionistisch begeben sich Menschen in einen vitalistischen Rausch, um das Dasein erträglicher zu machen, auch wenn damit die künftige Gesundheit oder das Dasein als solches aufs Spiel gesetzt wird. (vgl. Perry, S. 160f, 167, 187 sowie van Bruggen, S. 188)
Hoffnung
Cazalis erkennt in unserem Dasein ein Drogenanalogon: „Wie das Opium versorgt uns das Leben schnell mit irgendwelchen Halluzinationen, um uns dann zu töten.“{59} Erschreckenderweise, wäre mit Cazalis anzufügen, verabreichen Eltern diese Droge ihren eigenen Kindern.
Der Befund, dass Kinder ähnliche Rückzugskaskaden und eine ähnliche Glücksfrugalität auslösen wie harte Drogen, darf nicht ohne Weiteres mit Beifall rechnen. Dem Harvard-Psychologen (Vater und Großvater) Daniel Gilbert zufolge wirken Kinder jedoch wie Heroin, das zwar an sich ein „Quell menschlichen Elends“ sei. „Doch in dem Moment, in dem Sie es sich in den Arm drücken, fühlt es sich sehr, sehr gut an. Sind Sie erst einmal auf den Geschmack gekommen, hören Sie auf zu essen, zu arbeiten, Freunde zu treffen, Sex zu haben. Alle Dinge, die Ihnen früher Spaß gemacht haben, verschwinden durch Heroin. Kinder haben einen ähnlichen Effekt. Sie sind ein großer Quell der Freude – aber sie werden zum einzigen, weil sie so viel Zeit in Anspruch nehmen. [...] Wenn die [Eltern] Ihnen sagen, meine Kinder sind der größte Glücklichmacher, dann gibt es dafür eine einfache Erklärung: Wenn man nur eine Sache hat, die einen glücklich macht, dann wird die wohl der größte Glücksbringer sein.“ (Daniel Gilbert im Spiegel-Gespräch, Der Spiegel 31/2006, S. 118–120, hier S. 120)
Dunkel des gelebten Augenblicks und Licht der Welt
Der Hoffnungsdenker Ernst Bloch schreckte nicht davor zurück, Menschen auch künftig an die Front des bislang gescheiterten
Experimentum mundi zu schicken. Moraltheoretisch ist dies fragwürdig, da Bloch zugleich von einem noch ungelungenen – wenngleich nicht vereitelten – Wohin und Wozu der „ Experimentanordnung des Weltwegs“ (Experimentum mundi, S. 68) ausgeht.
Vor diesem Hintergrund war er so aufrichtig, die Metapher vom mit der Geburt erblickten „Licht der Welt“ mit seinem „Dunkel des gelebten Augenblicks“ abzuschatten: Die Geburt oder Genese einer lebenswerten und Heimat genannten Welt steht bei Bloch erst noch bevor, wobei das Gelingen „in unserer dunklen, suchenden, schwierigen Welt noch nicht gewonnen, aber auch noch nicht vereitelt“ sei (Experimentum mundi, S. 59). Ist die von Bloch propagierte Aufrechterhaltung der Front des Weltgeschehens noch verantwortlich zu nennen? Wohl kaum, denn er weiß sehr wohl um „die riesige Gebietskategorie des Bösen“ (Bloch, Experimentum mundi, S. 231). Man muss Bloch daher zu den
Damnatoren rechnen.
Blicken wir nicht auf die, die untergehen mussten, damit wir entstehen konnten, sondern auf uns selbst und unsere existentialgenetische Struktur, so ist von einer verfehlten Entstehung zu reden, von einer Dysgenese: Indem man so handelte, dass wir zu existieren begannen, begann ein freiheitsbegabtes Wesen seine prekäre – da organismisch jederzeit gefährdete – Existenz, das zum eigenen Existenzbeginn keine Stellung beziehen konnte und auf dessen künftiges
Daseinwollen man spekuliert, dessen Sterbenmüssen man hingegen ignoriert. Mit dem Begriff der Dysgenese wird Ciorans Rede von der verfehlten Schöpfung ein Terminus für die strukturell verfehlte Hervorbringung von Menschen an die Seite gestellt.
Literarische Gattung mit implizit antinatalistischem Gehalt. Autoren dystopischer Werke äußern Zweifel daran, dass sich mit noch so guten Intentionen entscheidende Verbesserungen der bisherigen
Conditio in-/humana dauerhaft erreichen lassen. In Dystopien gelangt überdies zur Darstellung, welche Folgen der Traum vom Glück zeitigen kann, auf welche Weisen jederzeit ein Umschlag des wohlwollend, fanatisch oder gar diktatorisch Geplanten Guten ins Destruktive stattfinden kann.
Mätopie
E
Personen, die in der Lage sind, eine egofugale Perspektive einzunehmen, erschließt sich, dass ihr Existenzbeginn in kein „Buch des Lebens“ eingeschrieben war, noch „in den Sternen“ stand. Sie wissen, dass sie bei einem etwas anderen Weltlauf niemals existiert hätten und ihr Dasein nicht das Ziel irgendeiner „Vorsehung“ war. Zusammen mit der
anthropofugalen Perspektive nimmt die egofugale Perspektive einen wichtigen Platz im Vorhof des Antinatalismus ein.
Egofugalismus, Egofugalist
Egofugalismus ist eine Weise, auf die sich die Unerträglichkeit des Daseins äußert. Das Spektrum des Egofugalismus beginnt dort, wo Personen nicht mit sich allein sein können – sie fliehen sich selbst – und es reicht bis hin zur Ich-Riskierung etwa bei der Ausübung bestimmter Hobbies oder Sportarten. In der Mitte liegen Präferenzen und Handlungen, die eine Ichreduktion anstreben:
Fluchtschlafen, Rauschzustände, das Aufgehenwollen in Institutionen und Massen.
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