Drogen,
Froh, geboren zu sein
Egoismus, nichthintergehbarer generativer
Paradoxerweise handelt es sich auch und insbesondere bei der Hervorbringung eines anderen Ich um eine – besonders schwerwiegende – Form von Egoismus. Paare, die eine progenerative Entscheidung getroffen haben, wähnen sich für gewöhnlich als Altruisten, da das intentionale Objekt ihres Handelns ein Subjekt ist, für das sie da sein und Verantwortung übernehmen wollen. Hierbei wird regelmäßig übersehen, dass das intentionale Objekt progenerativer Entscheidungen zuallererst da sein muss, um ein Subjekt elterlichen Altruismus sein zu können. Solange das Kind nicht zu existieren begonnen hat, ist kein fürsorgebedürftiges Wesen gegeben. Bevor das Kind existiert, ist allein der elterliche Kinderwunsch da. Wird dieser Wunsch erfüllt, so wird nicht etwa der Wunsch eines Kindes, auf die Welt zu kommen, erfüllt, sondern der Elternwunsch nach einem Kind.
Der generative Egoismus ist ein Sonderfall jenes von Schopenhauer diagnostizierten Kolossal-Egoismus, der die Welt überragt: „Denn wenn jedem einzelnen die Wahl gegeben würde zwischen seiner eigenen und der übrigen Welt Vernichtung; so brauche ich nicht zu sagen, wohin sie bei den allermeisten ausschlagen würde.“ (Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral, SW III, S. 728) Dem ist anzufügen: Mit jeder Hervorbringung eines menschlichen Subjekts ersteht eine neue dem Untergang geweihte subjektive Welt. Jeder einzelne hat die Wahl, Handlungen zu unterlassen, damit eine solche Welt nicht zu existieren beginnt. (
Elternschuld).
Kinderwunsch
Eine Antwort auf die Frage, warum Menschen in Zeiten möglicher Totalnatalprävention überhaupt noch Menschen hervorbringen: Um auf diesem Planeten nach dem eigenen Dahinscheiden einen Fußabdruck hinterlassen zu haben! Neben dem ökologischen haben wir somit einen egologischen Fußabdruck in Rechnung zu stellen. Ihm unterliegt freilich eine zweifelhafte Ontologie, da Eltern ihr Bewusstsein, ihr Ego, nicht weitergeben können. Jeder von uns ist essentiell das von seinem Gehirn realisierte Bewusstsein. Zu einer Selbst-Fortpflanzung im Sinne einer Weitergabe des Ich kommt es indes nicht. Anders als ein beliebter Aberglaube insinuiert, lebt niemand in seinen Kindern fort. Weitergegeben wird allein das sogenannte Erbmaterial (niemand spricht von einem Erbbewusstsein), das Erbgut, von dessen unvermeidlichen Erbübeln ungern geredet wird. Dennoch wollen Eltern in den Kindern „eine zweite Auflage ihres Selbst erleben“ (Dohm, Die Mütter, S. 169).
Wir sind gehalten, den eigenen ökologischen Fußabdruck so klein wie möglich zu halten, um die Existenzbedingungen von Milliarden gleichzeitig auf der Erde lebenden Menschen nicht unnötig zu verschlechtern. Gleichzeitig wird in den verhältnismäßig reichen Industrienationen kaum darüber nachgedacht, dass der egologische Fußabdruck, den zu hinterlassen wir allseits ermuntert werden, unser ökologisch bewusstes Handeln und den Konsumverzicht obsolet zu machen droht: Denn mit jedem neuen Erdenbürger, den Sterbliche in ihre Fußstapfen treten lassen, um nicht in Kürze spurlos und erinnerungslos von der Erde zu verschwinden, lassen wir zugleich eine unabsehbare Folge konsumierender Generationen unsere tiefen ökologischen Fußspuren treten.
Laut Sellius (um 150 n. Chr.) gab es in der Antike einen den modernen
Gebärstreik antizipierenden Ehestreik. Junge Frauen der 494 v. Chr. zerstörten Handelsstadt Milet sollen einen Bund geschlossen haben, da der Ehestand im Grunde ein Wehestand (
Gebärterror) sei und für die Frauen Schmerzen und Unfreiheit mit sich bringe. Zur Ehe gezwungene Mitglieder des Bundes sollten deswegen den Freitod suchen (vgl. Bilder-Lexikon der Erotik, Band 1, S. 316)
Wahre Ehrfurcht vor dem Leben bedeutet zweierlei: Zum einen die Ehrung aller existierenden Lebewesen, indem man sie schützt; zum Anderen die Furcht, schutzbedürftige Wesen hervorgehen zu lassen, von denen immer schon gewiss ist, dass nichts und niemand ihnen den erforderlichen Schutz bieten könnte.
Mehrfurcht
Der Eichmann-Horizont bezeichnet zwei langfristige Perspektiven, die in Anbetracht jeder generativen Entscheidung zu berücksichtigen sind:
a) Zum einen den von Hannah Arendt zwar nicht explizit behaupteten{60}, aber doch nahegelegten und durch sozialpsychologische Experimente (u.a. Milgrams) sowie jüngste Völkermorde dokumentierten Umstand, wonach jeder von uns unter entsprechenden historischen Gegebenheiten zu einem Eichmann werden kann;
b) zum anderen den Umstand, dass wir künftigen Unmenschlichkeiten{61} – die sich am geschichtlichen Horizont noch nicht einmal schemenhaft abzeichnen mögen – auf dem Wege der Fortpflanzung zuallererst die Opfer und die Täter liefern, zu denen gemäß a) fast jeder Mensch werden kann.
Vor dem Hintergrund des Eichmann-Horizonts kann nicht länger an eine natale Kollektiv-Unschuld appelliert werden. In Gestalt des Eichmann-Horizonts beanspruchen wir eine Verantwortlichkeitsextension, derzufolge nicht nur die Befehlsgeber, Planer und handanlegenden Akteure von Unmenschlichkeiten schuldig sind, sondern überdies all jene antinatalistisch
aufgeklärten Personen, die wider besseres historisches Wissen und wider gegebene Entscheidungsfreiheit künftige Opfer oder Täter zeugen: aufgeklärte Eltern.
Litt selbst der Soziologe Norbert Elias unter einer Alternativblockade? Darunter verstehen wir hier die biosozionom versperrte Einsicht darein, dass Menschen die Fortzeugung prinzipiell freigestellt ist. Elias scheint unter einer solchen Alternativblockade zu leiden, wenn er zwar danach fragt, wie den Sterbenmüssenden ihr Los erleichtert werden könne, zugleich aber auf die Aufforderung verzichtet, die Fortzeugung einzustellen, wodurch Menschen metaphorisch gesprochen zuallererst auf die lange Reise in den Tod geschickt werden:
„Es gibt in der Tat viele Schrecken, die das Sterben umgeben. Was Menschen tun können, um Menschen ein leichtes und friedliches Sterben zu ermöglichen, bleibt noch herauszufinden. Die Freundschaft der Überlebenden, das Gefühl der Sterbenden, dass sie ihnen nicht peinlich sind, gehört sicher dazu.“ (Elias, Über die Einsamkeit der Sterbenden, S. 100)
Was an Anbetracht dieses Befundes Elias‘ Not tut, ist eine einstweilige Verfügung, die Fortzeugung so lange einzustellen, bis herausgefunden wurde, wie jedem Menschen „ein leichtes und friedliches Sterben“ garantiert werden kann. Alles andere ist blanker Zynismus.
Einzelglück und Gesamtunheil
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