„Es gibt Totengrüfte für Lebendige: Siechtum, unheilbaren Gram. Auch das Greisentum der Frau ist solch eine Totengruft. Sie wird bei Lebzeiten darin beigesetzt.“
„Arme Alte! Dir ist, als müsstest du dich schämen, dass du, nun so unnütz und so alt schon, noch lebst. Das Alter lastet wie eine Schuld auf dir, als usurpiertest du einen Platz, der anderen gebührt.“ (Hedwig Dohm, Die Mütter, S.205)
Ganz in diesem Sinne äußert der als Ethiker berühmte Hans Jonas: „Das Sterben der Alten schafft Platz für die Jungen“ – mit diesen bio-logisch brutalen Worten bereitet Jonas in „Last und Segen der Sterblichkeit“ (in: Philosophische Untersuchungen…, S. 96) unseren alten Mitmenschen das schlechte Gewissen, immer noch da zu sein, obwohl sie biologisch gesehen längst „überflüssig“ sind. Jonas war beileibe nicht mit
Senilitätsblindheit geschlagen. Gleichwohl fordert er uns auf, immer neue Individuen in die Welt eintreten zu lassen (in der ihm zufolge das Leid das Glück überwiegt), die er andererseits in kruder Manier zum Abtreten auffordert. Dieser ethische Verrat an den Greisen korrespondiert seinem Paradebeispiel für ein ontisches Gegebensein von Hilfsbedürftigkeit: Es sei der hilfsbedürftige Säugling – und nicht etwa der ebenso hilfsbedürftige Greis –, dessen Sein zugleich ein Sollen impliziere und somit den Hiatus zwischen Sein und Sollen überbrücke. Passend zum ethischen Verrat an den Alten dichtet F. Th. Vischer:
„[...] Es sei! Des Lebens volle Schalen / Hab’ ich geneigt an meinen Mund, / und auch des Lebens ganze Qualen / hab’ ich geschmeckt bis auf den Grund. (...)
Wohl sinkt sie immer noch zu frühe / herab, die wohlbekannte Nacht, / doch wer mit aller Sorg und Mühe / hat je sein Tagewerk vollbracht!
Schau um dich! Sieh die hellen Blicke, / der Wangen jugendfrisches Blut, / und sage dir: In jede Lücke / ergießt sich junge Lebensglut.
Es ist gesorgt, brauchst nicht zu sorgen; / Mach Platz, die Menschheit stirbt nicht aus. / Sie feiert ewig neue Morgen, / du steige fest ins dunkle Haus!“ (In: Schirnding, A. von (Hg.), Der ewige Brunnen des Trostes, S. 68f)
Mit dem Gedicht leistet Vischer seinen Beitrag, die Alten zur Seinsbescheidenheit zu erziehen und wohlgemut ins dunkle Grab zu steigen. Sie sollen sich von ihrem Weiterlebenswillen nur ja nicht einreden, unverzichtbar zu sein. „Es ist gesorgt“ – das heißt: bereits bionom vor aller Entscheidung ist dafür Sorge getragen –, dass auch künftig Menschen ins Dasein treten. Der – vielleicht ebenso bionom – weiterlebenwollende Alte möge vernünftig sein und nicht am Leben hängen wollen, in das man ihn treten ließ.
Gerontolager
Altersvergessenheit oder Senilitätsblindheit, nativistische
Das Unvermögen, erwünschte eigene Kinder in ihrem ganzen zeitlichen Dasein zu antizipieren und sich dafür als verantwortlich zu begreifen: bis sie zu senilen Alten geworden sind (
Primortalität). Wer Kinder zeugt, blendet aus, dass auch die ihn umgebenden siechen alten Menschen Eltern hatten, die den Existenzbeginn dieser oftmals bedauernswerten Alten bewirkten. Alle Erzeugung jüngster Menschen ist begleitet von einem unerhörten Maß an Altersvergessenheit. Darunter verstehen wir den Umstand, dass jeder, der nicht „unerwartet früh und plötzlich stirbt“ Altern, Siechtum und einer
Sterbenskatastrophe ausgesetzt ist und dass dies dem Mitfühlenden ein Grund sein müsste, keine Nachkommen hervorzubringen. Stattdessen aber bleiben Altern und Sterben bei fast allen progenerativen Entscheidungen ausgespart (
Altershiatus).
Leopardi, Giacomo (1798–1837)
Bei aller Altersvergessenheit kann niemand behaupten, dass es an warnenden Stimmen wie derjenigen Leopardis gänzlich gefehlt hätte: „Man kann tatsächlich ganz allgemein behaupten, dass heute jeder mit einer gewissen Begabung und Empfindung ausgestattete Mensch, nachdem er die Welt erfahren hat, besonders im reifen Alter unglücklich ist. Bis zum Tode leben sie in diesem Zustand stiller Verzweiflung.“ (In: Horstmann (Hg.), Die stillen Brüter, S. 77)
Das Ausmaß an Altersvergessenheit ist dergestalt, dass selbst ein so hellsichtiger und unerbittlicher Phänomenologe des Alterns wie Jean Améry nicht auf die Idee kommt, die Forderung aufzustellen, man möge die Hervorbringung immer neuer jüngster Menschen einstellen, die unweigerlich altern und unentrinnbar dem anheimfallen, was er in seinem Essay „Über das Altern. Revolte und Resignation“ beredt schildert:
Da ist die mehr oder minder schwere Leibesmüh, von der jeder Alternde früher oder später heimgesucht wird (S. 48); Schmerzen und Krankheiten, die Verfallsfeste mit unseren Körpern veranstalten (S. 53); das Heranwachsen des Todes in uns (S. 121); die Ungleichheit vor dem Tode, die den Armen vielleicht in einer Abseite eines
Gerontolagers, den Reichen hingegen in einer Luxusklinik neben Blumen verseufzen lässt (vgl. S. 113f); die nicht so sehr paradoxe, als vielmehr „scheußliche Springlebendigkeit“ (S. 122) des Sterbenden, dessen Organismus sich Tage gegen das Sterben aufbäumen kann: „dank“ kreatürlicher Anklammerung an das Leben (S. 120). Schrecklich ergänzend Cioran: „Es ist das Eigentümliche an der Krankheit, dass sie wacht, wenn alles schläft, wenn sich alles ausruht, sogar der Kranke.“ (Cioran, Vom Nachteil, geboren zu sein, S. 31)
Améry bringt zum Ausdruck, dass wir zu alledem verurteilt sind: Warum „vergisst“ er die Forderung, derlei Alterns- und Sterbenszumutungen einzustellen? Wie ausgeprägt Amérys „Sterbensangst“ und damit sein Einblick in den
Zumutungscharakter des Daseins ist, wird dort offenbar, wo er an die Todesmärsche zurückdenkt, in denen er – jedenfalls im Nachhinein – lieber zugrundegegangen wäre als das von ihm beschriebene Sterben noch vor sich zu haben: „Ich denke viel an die verschneiten Landstraßen von 1944 und den guten Mord-Tod, der von mir nichts hat wissen wollen. Kein schönerer Tod, in der Tat – nicht jedermann hat die Chance.“ (S. 125) Glücklicherweise beeilt sich Améry, dem hinzuzufügen: „Inakzeptabler Gedanke, wenn man erwägt, zu was für reaktionären Gemeinheiten er ein Alibi abgeben könnte!“ (Ebd.)
Wie auch in seinem Essay „Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod“, streift Améry das Bessernichtgeboren in „Über das Altern“ an einer Stelle, ohne es zu einem Nichtfortpflanzungsgebot zu gestalten: „Gut ist der Schlaf, der Tod ist besser, zu sagen, hat keinen Sinn; am besten wäre, nie geboren zu sein: das ist eine Leerformel, mit der die Logistik fertig wurde.“ (S. 54) Améry lässt als vermeintliche Unlogik liegen, was er auf Grund seiner Einsichten in ein Verebbensgebot zu transformieren allen Anlass hatte: Unbegreiflicherweise finden wir bei Améry nur die – immerhin entfernt an die
Elternschuld rührende – Formulierung:
Читать дальше