Gotteskindschaft,
Kriminatalität
Akkusationszurückhaltung, nativistische
Der Terminus Akkusationszurückhaltung verweist auf das Unvermögen, Eltern nach vollzogener Akkusationstransformation als Verantwortliche beim Namen zu nennen. Im Zuge der Akkusationszurückhaltung wird der göttliche Adressat wider bessere Einsicht noch lange als ideelle Strohpuppe mitgeschleppt, wo das
Elterntabu wirkmächtig ist.
Mit einer Akkusationszurückhaltung haben wir es zu tun, wenn Henri
Cazalis (1840–1909) fragt:
„Für wen ist diese Welt? Für uns? Aber kaum in ihr angekommen, wollen wir uns nur noch zerstreuen, uns von der Schwere des Daseins und der Monotonie endloser Stunden loslösen. Für Gott? Aber wer ist dieser Gott, der an einem derartigen Spektakel Gefallen findet?“{6}
Statt nach dem Gott zu fragen, den ein solches Spektakel amüsiert, müssen wir akkusationstransformatorisch nach den entsprechenden Eltern fragen. Gleiches gilt für diesen Aphorismus Cazalis‘ zum stets tödlichen Gift des Lebens: „Das Leben ist ein Gift, das – ob schnell oder langsam, Gott sei Dank jedenfalls ausnahmslos – tödlich ist.“{7} Im Sinne der Akkusationszurückhaltung sind analoge gegen Eltern gerichtete Klagen weitgehend ausgeblieben. Mit de Giraud ist zu konstatieren: „Zahlreich sind die Geister, die sich über den grausamen Gott beklagen, der unsere Welt hervorrief; aber schleicht man sich nicht ophidisch in die Rolle des grausamen Gottes, wo man sich fortpflanzt?“{8}
Zu den Beweggründen für Fortzeugungen gehört fraglos die Alleinseinsbewältigung. Um als Einzelner oder als Paar nicht länger allein zu sein, handelt man so, dass ein weiterer Mensch zu existieren beginnt, dem nun selbiges Alleinsein droht. Weshalb Thomas Bernhard in seinem Roman „Frost“ formuliert: „Ein Alleinsein erzeugen, weil man nicht mehr allein sein will, das ist verbrecherisch.“ (Bernhard, Die Romane, S. 28) In ihrem Letzter-Mensch-Roman „Die Wand“ lässt Marlene Haushofer bekenntnishaft die letzte alleinseiende Person zu Wort kommen, deren Äußerung die ungeheure Schuld anspricht, die mit jeder scheinbar selbstverständlichen Fortpflanzung einhergeht: „Ich habe aufgehört, das Leben und den Tod weiterzugeben. Auch das Alleinsein, das uns so viele Generationen begleitet hat, stirbt mit mir aus.“ (Haushofer, Die Wand, S. 104)
Allen, Woody (*1935) – ein Komiker als todernster Antinatalist
Auf die Frage: „Aber wenn die Welt so ein Jammertal ist, warum haben Sie dann Kinder?“ antwortet Woody Allen: „Meine Frau und ich haben keine auf die Welt gebracht, nur
adoptiert. Kinder selbst zu produzieren, ist keine schöne Sache. Vielleicht irre ich mich auch, aber ich finde nicht, dass ich einem Menschen einen großen Gefallen tue, wenn ich ihm dieses Leben zumute.“ (Interview in Die Welt vom 9.11.2006) Näherhin erläutert Allen, er dürfe „nach Lust und Laune Filme drehen. Doch das ändert nichts daran, dass ich das Leben an sich deprimierend und grauenvoll finde. Man könnte also sagen: Ich bin so glücklich, wie ich es im Rahmen meiner jämmerlichen und sinnlosen Existenz auf Erden nur sein kann.“ (Interview in der FAZ vom 25.8.2012)
Arnold Gehlen vertrat die Auffassung, es bedürfe starker Institutionen, damit der Mensch mit seiner tendenziell ausufernden Subjektivität nicht auf „unzuträgliche Gedanken“ kommt. – Dazu hätte er sicherlich Fragen wie die nach dem Seinsollen von Menschen gerechnet. Ein anderer Denker setzt viel niedriger und zwangloser an, nämlich im Alltag, der mit seinen Aufgaben bereits in der Lage sei, das Denken flach zu halten und uns so zu bannen, dass die Frage nach dem Warum des Ganzen nicht aufkommt: Odo Marquard hat eine Art Alltags-Anthropodizee umrissen, wonach unser Dasein allein schon dadurch sinnhaft wäre, dass es zu jedem Zeitpunkt etwas Alltägliches zu tun und zu erledigen gibt:
„Die Menschen verzweifeln nicht, solange sie immer gerade noch etwas zu erledigen haben: die Milch am Überkochen zu hindern, den Zug in den nächsten Bahnhof zu fahren, das Baby zu füttern... Dadurch... kommen die Menschen – und das ist richtig so –, ständig zu spät zum Rendez-vous mit dem absoluten Nein.“ (Apologie des Zufälligen, S. 49)
Wir erheben Einspruch gegen diesen Katalog der Alltäglichkeiten, der sich zwanglos fortsetzen ließe: Es gibt immer noch einen Film, den man sich ansehen könnte, eine Flasche Kaltgetränk, deren Zuckerkomposition man sich auf dem Weg zum Kiosk bei einer Außentemperatur von sieben Grad Celsius in den Magen spülen könnte, eine Wollmütze, die man erstehen könnte, um sie bei 21 Plusgraden vorzuführen, eine Kapuze sich überzustülpen, unter der man seine Daseinsangst verbergen könnte. Wir erheben dezidierten Einspruch gegen den
Salto natale, den Marquard vollführt, indem er die Fütterung des Babys in den Katalog der zweifelbannenden Alltäglichkeiten aufnimmt. Denn das Baby ist nicht einfach so da – es wurde gezeugt! Von Menschen, die einen Menschen zeugten und ihn somit dem Verzweifelnkönnen aussetzten, dem er unter Umständen zu entkommen suchen wird, indem er seinerseits Dasein zumutet, womit seine Eltern zu Groß-Zumutern werden.
Das Baby gerät zu einem fremdnützigen Gegenstand, in den man Nahrung eingibt, um im Gegenzuge Sinn zu erhalten. Sein künftiges Schicksal berücksichtigt Marquard an dieser Stelle nicht weiter. Er erweist sich als blind gegen den Umstand, dass jeder Daseinsneuling das absolute Nein repräsentiert, da er sterblich ist. Eine Zumutung neben vielen anderen, auf die der Antinatalismus auf seine Weise mit einem absoluten Nein reagiert: Alle müssen sterben, aber niemand muss zeugen.
Dies führt uns zu einem weiteren Aspekt in Marquards existentiellem Täuschungsversuch: „Selbst wenn
Silen recht hätte mit seinem Satz ‚das Beste ist es, nicht geboren zu sein’, hat doch
Polgar noch mehr recht mit seinem Kommentar zu diesem Satz: ‚Das Beste ist es, nicht geboren zu sein: doch wem passiert das schon?’ Wenn wir aber bereits leben, haben wir dem Leben – zwar nicht prinzipiell und als Üblichkeit – durch Leben jeweils schon irgendwie zugestimmt.“ (Apologie des Zufälligen, S. 52) An dieser Stelle scheint sich Marquard des Instruments der
Existenzerpressung zu bedienen: Gefällt dir dein Leben nicht, so beende es doch. Da du noch lebst, muss es dir wohl auch gefallen! Das Leben wird vorgestellt wie ein Mantel, den man ablegen könnte, wenn er einem nicht behagt (
Mantel-Metapher).
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