„Warum wir ein Kind adoptierten. Weil Kinder-Zeugen ein Akt der Selbstbestätigung ist. Weil ein Kind anzunehmen das Kind bestätigt, sonst nichts.“ (Schnurre, Der Schattenfotograf. S. 22) Wer sich fortpflanzt, ist egoistischer Ego-Erzeuger. Wer hingegen den Plan zur Adoption fasst und ausführt, kann glaubwürdig machen, dass es sich dabei um einen altruistischen Akt handelt.
Tolstoi
Adorno, Theodor (1903–1969)
Als Theoretiker von Verblendungszusammenhängen und der gescheiterten Zivilisation denkt Adorno öfters im Vorhof des Antinatalismus, ohne je zu ihm vorzustoßen.
Adornos Antinatalismusblindheit und Komplizenschaft mit dem Unheil
Kaum ein gesellschaftskritischer Denker, dessen Diagnose so nah am Antinatalismus liegt, wie diejenige Adornos. Und doch wischt er – bereitwilliges Opfer des von ihm angeprangerten Verblendungszusammenhang und in seinen Worten – den Antinatalismus gleichsam mit dem freudigen Schwanzwedeln eines Hundes von der philosophischen Tagesordnung, womit er sich zum Komplizen des von ihm vorausgesagten künftigen Unheils macht:
„Fragen ließe sich, von solchen, denen Verzweiflung kein Terminus ist, ob es besser wäre, daß gar nichts sei als etwas. Noch das weigert sich der generellen Antwort. Für einen Menschen im Konzentrationslager wäre, wenn ein rechtzeitig Entkommener irgend darüber urteilen darf, besser, er wäre nicht geboren. Trotzdem verflüchtigte sich vorm Aufleuchten eines Auges, ja vorm schwachen Schwanzklopfen eines Hundes, dem man einen guten Bissen gegeben hat, den er sogleich vergißt, das Ideal des Nichts.“ (Negative Dialektik, S. 373)
Vielleicht kann man sich Adornos Antinatalismusblindheit damit erklären, dass er eine Vorstellung ablehnt, derzufolge mit der Negation des Negativen bereits das Positive gesetzt sei (vgl. Adorno, Metaphysik, S. 225) Demnach würde er es ablehnen, in einer Verunmöglichung von Auschwitz auf dem Wege des Verschwindens aller Menschen etwas Positives zu sehen. – Was bedeuten könnte, dass er – gegen seine sonstige Lehre – insgeheim doch an einer Positivierung des Daseins für die Menschen festhalten möchte.
In „Kulturkritik und Gesellschaft“ setzt Adorno die Hervorbringung von Menschen nach Auschwitz offenbar als eine nichthintergehbare Selbstverständlichkeit voraus, stellt jedoch die Hervorbringung von Gedichten in Frage: „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch...“ (Gesellschaftstheorie und Kulturkritik, S. 65) Diese Äußerung revidiert er in seiner Negativen Dialektik, wo er zwar das Leben der Entkommenen in Frage stellt, weiterhin aber nicht aber die Hervorbringung neuer Menschen: „Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben. Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen.“ (Negative Dialektik, S. 355) Allem Eingedenken von Auschwitz zum Trotz verbleibt Adorno im Vorhof des Antinatalismus.
Neben der Flucht in die von der Warenwelt losgekoppelte Logizität des Ästhetischen kennt Adorno die Exzentrik als eine Weise des Überdauerns im falschen Gesamten. Während für Plessner der Mensch also solcher Exzentriker ist, ist für Adorno der Exzentriker unter soziologischen Vorzeichen ein Widerständler:
„Was wäre Glück, das sich nicht mäße an der unmessbaren Trauer dessen was ist? Denn verstört ist der Weltlauf. Wer ihm vorsichtig sich anpasst, macht eben damit sich zum Teilhaber des Wahnsinns, während erst der Exzentrische standhielte und dem Aberwitz Einhalt geböte.“ (Minima Moralia, Aph. 128, S. 266) Demnach müssten Eltern sich zumindest in der Hoffnung ergehen, dass aus ihrem Kind einst ein Exzentriker wird. – Bedachte Adorno die immensen Leidensunkosten exzentrischer Lebensführung? Antinatalismusblindheit ist das eigentliche Manko der gesamten Kritischen Theorie, nachdem sie ihren revolutionären Impetus abgeworfen hatte.
Ägyptische Daseinsverwerfung
Mit dem Aufkommen von Schriftsystemen zur Fixierung von Mitteilungen und Gedanken - wohl in tempelwirtschaftlichem Kontext - war es in den auf kruder Ausbeutung gründenden sogenannten Hochkulturen möglich geworden, dem vermutlich uralten Niegewesenseinswunsch dauerhaften Ausdruck zu verleihen. Bereits aus der ägyptischen Ersten Zwischenzeit (um 2050 v.d.Z.) ist überliefert und somit 4000 Jahre alt: „Das Elend des Lebens ist so unermesslich: Ich wünschte, ich wäre tot; und schon die kleinen Kinder sagen: Hätte man mich doch nicht ins Leben gerufen.“ (Zit. nach Rölleke, S. 11f. Siehe auch Jacobs, S. 20)
Ahimsa ist das insbesondere von der Religionsgemeinschaft der Jains hochgehaltene Prinzip der Gewaltlosigkeit, welches auch für Buddhisten und Hindus von erheblicher Bedeutung ist. In der Fluchtlinie des Ahimsa-Gedankens steht der Antinatalismus, sofern niemand verletzt werden kann, wenn niemand gezeugt wird. Eine Religion der Gewaltlosigkeit würde – wie der Jainismus oder das frühe Christentum – die natale Enthaltsamkeit predigen. Eine Person, die von sich behauptet, jegliche Gewalt abzulehnen, wird nicht so handeln, dass eine neue Person zu existieren beginnt und somit der Gewalt ausgesetzt wird, weshalb die religiösen Eliten asiatischer Religionen und des Christentums weitgehend nachkommenlos blieben.
Gandhi, Mahatma (1869–1948)
In seinen vom 24. Februar bis zum 27. November 1926 im Satyagraha Ashram gegebenen „Discourses on the Gita“ erläutert Gandhi, wie aus Ahimsa das Gebot der Nichtfortpflanzung folgt: „If destruction is violence, creation, too, is violence. Procreation, therefore, involves violence. The creation of what is bound to perish certainly involves violence.“ (Gandhi, The Bhagavadgita, S. 292. Siehe auch: The Collected Works of Mahatma Gandhi, Volume 37, S. 337f)
Himsa-Fußabdruck
Mirbeau, Octave (1848–1917)
In „Der Garten der Qualen“ attackiert Octave Mirbeau in der Manier Gandhis die pronatalistische Deutungshoheit und stellt „die Frau“ nicht als Lebensgeberin vor, sondern als Sterbensverantwortliche: „Die Frau birgt in sich, gleich der Natur, eine elementare kosmische Kraft, einen unbezwinglichen Destruktionstrieb… Sie ist die Natur selbst! … Indem sie Leben gebärt, gebärt sie auch den Tod.“ (Mirbeau, Der Garten der Qualen, S. 35)
In traditionalen Gesellschaften und Milieus etwa Chinas oder Afrikas waren und sind nicht nur den noch lebenden Eltern, sondern zumal auch den bereits verstorbenen Ahnen Kinder darzubringen (zu „schenken“), die sich der Ahnen entsinnen und sie ehren. Der Kinderlose durchbricht ein Tabu und kann mit religiösen oder sozialen Sanktionen bedacht werden, die sich als Schmähungen und üble Nachrede bin in die Gegenwart fortsetzen.
Paterfugalität
Ahnenverwünschung (Ahnen-Begegnungsverwünschung)
Die Ahnenverwünschung ist ein Moment des Niegewordenseinswunsches bzw. der Existenzverwünschung, wie sie im „O wär’ ich nie geboren!“ zum Ausdruck kommt. Die Ahnenverwünschung bringt zum Ausdruck, dass meiner Entstehung nicht allein die Begegnung meiner Eltern zugrunde liegt, sondern auch die der Großeltern und so fort.
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