Mit der Zusammenstellung und Kommentierung antinatalistischer Zeugnisse und Keimformen aus Jahrhunderten möchten wir unseren Lesern spezifische Weisen demonstrieren, in denen – nach unserer Lesart – die Menschheit in den Aussagen Einzelner gleichsam zur Vernunft kommt, indem sie sich von der Naturwüchsigkeit der Fortpflanzung distanziert und emanzipiert. Der Antinatalismus nimmt den Menschen als ein Kulturwesen ernst, das in der Lage ist, das Naturerbe der Fortpflanzung kritisch zu hinterfragen und sich diesem fatalen Erbe unterlassend zu entziehen. Bei der Vorstellung eines Seinsollens von Menschen handelt es sich unseres Erachtens um einen teils bionomen, teils kulturell unterfütterten Verblendungszusammenhang. Wie stark dieser Verblendungszusammenhang ist, erhellt etwa daraus, dass Vertreter radikaler Gesellschaftskritik wie Adorno zwar von einem „gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang“ reden, gleichwohl aber nicht in der Lage waren, die Perpetuierung des „Ganzen als des Unwahren“ im Sinne einer Philosophie der Nachkommenlosigkeit radikal in Frage zu stellen. Unsere Zusammenstellung von Antinatalismen dokumentiert Momente der Philosophie-, Literatur- und Kulturgeschichte, in denen dieser Verblendungszusammenhang brüchig oder durchschaut wird.
Zu den in Moderne und Gegenwart fortdauernden Mythologemen naturwüchsiger Provenienz gehört die Aussage, es sei nun einmal naturgegeben, dass Menschen sterben müssen. Der Antinatalismus entlarvt die angebliche Naturgegebenheit des Sterbenmüssens von Menschen als Ideologie. Denn als sterbliche Wesen sind wir nicht naturgegeben, sondern menschenverursacht. Tatsächlich kommt es nicht nur darauf an, die Gesellschaft in ihrem Sosein zu kritisieren und sie zu verändern, sondern sie in ihrem Dasein vernünftig aufzuheben.
Mit unserem Handbuch zum Antinatalismus verorten wir uns in der Tradition philosophischer Aufklärung. Es klärt darüber auf, dass die scheinbar „normalste“ Sache der Welt: dass es Menschen gibt und dass Menschen hervorgebracht werden, bei näherem Hinsehen fragwürdig ist. Denn in letzter Instanz ist es die Fortpflanzung, die dazu führt, dass immer neue Generationen von Menschen sich vor immer neue und wiederkehrende alte unlösbare Probleme gestellt sehen und die
Conditio in/humana perpetuiert wird.
Nun wäre es natürlich allzu simpel, den Eltern dieser Welt alle Schuld für Miseren zuzuschreiben. Zumindest in fortgeschrittenen Industriegesellschaften lebende Eltern stehen häufig auf dem Standpunkt, nur das Beste für ihre Kinder zu wollen. Und zu diesem Besten gehöre dann, dass man die Kinder zuallererst erzeugt. – Wobei übersprungen wird, dass ein ontoethischer Fehlschluss vorliegt, wenn Personen vermeinen, Nichtexistierenden etwas Gutes zu tun, indem sie den Existenzbeginn dieser Nichtexistierenden bewirken.
Antinatalisten konzedieren, dass einige gute Argumente für Nachkommen zu bedenken sind: etwa die Erwägung, dass ein plötzlich und weltweit einsetzender radikaler Geburtenstopp die Lebensqualität aller existierenden Menschen – im Unterschied zu einem allmählicheren Verebben – deutlich mindern könnte. Zugleich sind Antinatalisten jedoch der Auffassung, dass sich oftmals uneingestandene egoistische Motive hinter Kinderwünschen verbergen und dass die Argumente gegen die Fortpflanzung insgesamt weitaus stärker wiegen als pronatale. Antinatalisten beziehen dabei keine feindliche Haltung gegen Eltern – oder Personen, die Eltern werden wollen –, sondern versuchen, sie mit Argumenten davon zu überzeugen, dass es besser ist, keine weiteren Kinder hervorzubringen.
Unsere Kategorie der
Elternschuld trifft durchaus nicht alle Eltern aller Zeiten gleichermaßen, sondern greift richtiggehend erst dort, wo Eltern – und insbesondere Frauen – zum einen über ein gewisses Maß an nativistischer Selbstbestimmung verfügen und zum anderen sich dessen vergewissert haben, was ihren Kindern bevorsteht, wenn sie welche hervorbringen. Genuine Elternschuld unterstellen wir bei reflektierten Personen des Informationszeitalters, die sich gegen vorhandene eigene Zweifel pronatal entschieden haben oder sogar mit der antinatalistischen Moraltheorie bekannt geworden sind und sich dennoch fortpflanzen. Ein guter Vergleichsmaßstab ist hier der ethische Vegetarismus: Wer in einer traditionalen Gesellschaft oder in einem carnivoren Umfeld aufgewachsen ist, macht sich über die ethisch nicht zu rechtfertigenden Konsequenzen des Fleischkonsums womöglich keine Gedanken. Einmal mit den Argumenten des ethischen Vegetarismus bekannt geworden, handelt diese Person wider eine erreichbare bessere ethische Einsicht, wenn sie weiterhin Fleisch konsumiert. Analoges gilt für die Fortpflanzung: Personen, die Gelegenheit hatten oder die Notwendigkeit verspürten, die Option der Nachkommenlosigkeit zu bedenken oder mit der antinatalistischen Moraltheorie bekannt wurden, laden Elternschuld auf sich, wenn sie sich wider besseres antinatalistisches Wissen fortpflanzen.
Aufklärung, nativistische
Ziel nativistischer Aufklärung: Subjektivierung der objektiven Mittäterschaft
Ohne zu wissen, was sie tun, und teils in bester Absicht, wirken Menschen, die an einer pronatalen Entscheidung festhalten, an der Grundlegung künftigen Unheils mit. Und auch wenn sie im Grunde wissen, was sie tun, blenden sie diese Einsichten – zumindest vorübergehend – erfolgreich aus. Wir sprechen deshalb von der objektiven Mittäterschaft aller Eltern. Nativistische Aufklärung läuft auf eine Subjektivierung dieser der objektiven Komplizenschaft hinaus.
Lexikalischer Teil
A
Abberufung und Einberufung
Kant gilt der Suizid als Verbrechen und Mord und wesentlich als „Verletzung einer Pflicht gegen sich selbst“. Im uns hier interessierenden Teil seiner Begründung macht Kant zudem eine Pflichtübertretung gegen andere Menschen und schließlich gegen Gott geltend, „dessen uns anvertrauten Posten in der Welt der Mensch verlässt, ohne davon abgerufen zu sein…“ (Kant, Metaphysik der Sitten, Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (Von der Selbstentleibung, § 6), S. 507) Demnach wären wir Gottes Statthalter auf Erden, die – bar aller existentiellen Autonomie – darauf zu warten hätten, bis ein uneinsehbarer Entschluss ihnen das Ende bereitet. Nun war es aber bereits ein undurchschaubares Schicksal, das uns den Beginn unserer Existenz bescherte: Seit Jahrzehntausenden werden Menschen gezeugt, bis eines bestimmten Tages aus unerkennbarem Grund „ich“ zu existieren begann (
Ichfälligkeit). Diesen Anfang betreffend zeigt sich Kant konzilianter: Da niemand dem eigenen Lebensbeginn zugestimmt habe, seien die Eltern verpflichtet, uns das Leben bis zum Erreichen der Volljährigkeit so angenehm zu gestalten, dass wir ihm zugestimmt haben würden, hätten wir die Wahl gehabt zu existieren oder nicht zu existieren. Vor dem Horizont von Kants Herausstellung und philosophischer Bewältigung der heteronomen Einberufung eines jeden ins Dasein in der Weise nachholender Zustimmung wäre es nur folgerichtig gewesen, wenn er die Fremdbestimmtheit unseres Existenzbeginns mit seiner Zustimmung zur Selbstbestimmung beim Existenzende kompensiert hätte.
Absurdes – Camus und Beckett
Читать дальше