Antinatalismus als Resultat eines gesamtgesellschaftlichen Lernprozesses
In Abwandlung eines bekannten Diktums ließe sich sagen: Geschichte ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit von naturwüchsigen Vorgaben – und der Antinatalismus bringt diese Freiheit auf den pointiertesten Begriff.
Der Antinatalismus ist der moraltheoretische Ausdruck der sich gegen zahlreiche Widerstände nur langsam sedimentierenden Kritik eines ungeheuren – weil mit unausdenkbaren Leiden einhergegangenen – geschichtlichen Prozesses, der die Bezeichnung „Lernprozess“ kaum zu verdienen scheint. Zeitlich zu auseinandergezogen ist das Aufblitzen einzelner Einsichten, dass es besser ist, wenn keine weiteren Menschen hervorgebracht werden. Und doch wird gegen Ende des 20. Jahrhunderts vermehrt eine antinatalistische Konsequenz aus der bisherigen Geschichte gezogen.
Antinatalistische Keime und Formen
Bei der neuerdings „Antinatalismus“ genannten Nachkommenlosigkeitsphilosophie handelt es sich um moraltheoretische Positionen, die sich nur allmählich aus der kulturellen Überlieferung und (willens-)metaphysischen Überformung herausschälten und wohl erst um die Wende zum 20. Jahrhundert in den Schriften eines unter dem Pseudonym
Kurnig schreibenden Denkers zu sich selbst fanden. Die Arbeit an diesem Handbuch Antinatalismus war von der Überzeugung getragen, dass neben klaren Bekenntnissen zum Antinatalismus, Infragestellungen der Fortpflanzung oder Aufrufen zu nataler Enthaltsamkeit zahlreiche Zeugnisse, Ausrufe und Stellungnahmen auffindbar sein und berücksichtigt werden müssen, die zwar nicht als genuin antinatalistische Positionen verbucht werden können, die aber gleichwohl als antinatalistische Keime innerhalb der kulturellen Überlieferung angesehen werden dürfen. Neben direkten Antinatalismen – wie wir sie nennen wollen – in Vergangenheit und Gegenwart möchte dieses Handbuch seinen Lesern somit auch die Anwesenheit antinatalistischer Keimformen in philosophischer, epischer, dramatischer und lyrischer Literatur vorführen. Mit unseren Verweisen auf (proto-)antinatalistische Elemente in der Literatur dokumentieren wir, dass der Daseinsprotest transhistorisch von jeher unterschwellig zugegen war und es sich keineswegs etwa nur um ein Dekadenz-Phänomen handelt. Drei klassische Inspirationsquellen für antinatalistische Formen und Fortzeugungskritik in Vergangenheit und Gegenwart sind dabei der altgriechische Antinatalismus der Tragiker, der altasiatische Antinatalismus sowie ein biblischer Antinatalismus (bedingt Hiobs
Niedagewesenseinswunsch und insbesondere Jesu vorbildliche Familien- und Kinderlosigkeit in Ansehung des nahen Weltgerichts, die von Paulus in den Briefen an die Korinther wiederholt anempfohlen wird) im Gegensatz zum biblischen Pronatalismus in Gestalt des alttestamentarischen Fruchtbarkeitsgebots. Zwei antike Quellen des Antinatalismus haben somit religiösen Charakter, während sich vom altgriechischen Antinatalismus vielleicht am ehesten sagen lässt, dass er einem von Jacob Burckhardt diagnostizierten pessimistischen Daseinsgefühl korrespondiert.
Antinatalistische Durchbrüche und Schübe
Im 20. Jahrhundert kam es zu mehreren unabhängigen Durchbrüchen hin zum Antinatalismus. Teilen wir die antinatalistischen Durchbrüche nach Sprachzonen auf, so ergibt sich etwa folgendes Bild.
Deutscher Sprachraum:
Kurnig, Guido Kohlbecher, Martin Neuffer, Karim Akerma, Gunter Bleibohm, Nicole Huber.
Französischer Sprachraum:
Philippe Annaba und Théophile de Giraud.
Spanischer und portugiesischer Sprachraum:
Julio Cabrera und Rafael Tages Melo.
Englischer Sprachraum:
Herrmann Vetter, David Benatar, Jim Crawford, Thomas Ligotti, Ken Coates, Sarah Perry und manche andere.
Ermöglicht wurden diese antinatalistischen Durchbrüche durch mannigfache (geistes)geschichtliche Strömungen und Ereignisse, die wir antinatalistische Schübe nennen. Um an dieser Stelle nur einige wenige antinatalistische Schübe zu nennen: die Säkularisierung mit ihrer in der Literatur vielfach geübten Kritik an Gott als dem für das defizitäre Dasein von Menschen Verantwortlichen, das metaphysische Denken Schopenhauers und Eduard von Hartmanns, der Nihilismus, der Feminismus.
Nihilismus, Rejektionismus/Daseinsverneinung und anthropofugale Perspektive
Versteht man unter dem zunächst vagen Begriff „Nihilismus“ einen noologischen {1}Nihilismus, so ist darunter zu verstehen: Es gibt nichts – und insbesondere keine objektiven Werte oder Ziele –, wofür es sich zu leben lohnte. So gesehen hat der Nihilismus einen antinatalistischen Impetus. Denn vor seinem Horizont lassen sich auch Kinder nicht als etwas anführen, wofür es sich zu leben lohnte. Ferner legt der noologische Nihilismus die Frage nahe: Warum den Existenzbeginn eines Menschen bewirken, von dessen Leben feststeht, dass es sich nicht lohnt oder sinnlos bleibt, warum ihn also zu einer nihilistischen Existenz „verurteilen“?
In seinem Sendschreiben „Jacobi an Fichte“ von 1799 warf Jacobi letzterem einen Idealismus vor, den er Nihilismus nannte; womit er auf den Umstand anspielte, dass für Fichte das Ich das einzige Wirkliche ist. Während dieser ontologische Nihilismus à la Fichte (und Berkeley) nur konstatiert, dass außer dem Ich nichts wirklich ist, vertritt ein onto-ethisch zu nennender Nihilismus – unter Einbeziehung des jeweils denkenden Ich – die Position, dass besser niemals etwas existiert hätte und dass anzustreben ist, dass nichts mehr existiert. Eine Stellungnahme par excellence im Sinne des onto-ethischen Nihilismus findet sich in Georg Büchners „Danton“, wo es heißt, die Schöpfung sei die Wunde des Nichts und wir Menschen seine Blutstropfen.
Nehmen wir am onto-ethischen Nihilismus eine interne Differenzierung vor, so gelangen wir zu einer daseinsverneinenden Haltung, für die Ken Coates die Bezeichnung Rejektionismus prägte{2}. Daseinsverneiner/Rejektionisten sind etwa all jene literarischen Figuren im Vorhof des Antinatalismus, die über die Jahrtausende adressatenlos ausriefen: „O wär‘ ich nie geboren!“ Rejektionistisch/daseinsverneinend sind insbesondere auch Religionen wie der Jainismus, hinduistische Glaubenssysteme oder der Buddhismus, deren Laienanhängern gleichwohl die Fortpflanzung zugestanden wird.
Onto-ethische Nihilisten sowie Daseinsverneiner stehen deshalb im Vorhof des Antinatalismus, weil sie zwar das Daseins von Welt und Mensch verneinen, ohne aber im gleichen Antinatalisten zu sein. So ist beispielsweise Eduard von
Hartmann ein onto-ethischer Nihilist und Rejektionist, der sich jedoch zugleich dezidiert gegen den Antinatalismus ausspricht. Dass der onto-ethische Nihilismus keineswegs mit dem Antintalismus deckungsgleich ist, erhellt etwa auch aus Ludger Lütkehaus‘ umfangreicher neueren Studie namens „Nichts“, in der der Antinatalismus so gut wie keine Rolle spielt. Ähnlich finden sich Daseinsverwerfungen in Dichtung und erzählender Literatur zuhauf, ohne dass die daseinsrejizierenden Figuren – geschweige denn die sie gestaltenden Autoren – Antinatalisten sein müssten.
Gemeinsam ist dem onto-ethischen Nihilismus und dem Rejektionismus das, was Ulrich Horstmann in „Das Untier“ von 1983 die „anthropofugale Perspektive“ nennt. Darunter versteht er den „Blickwinkel einer spekulativen Menschenflucht…, ein Auf-Distanz-Gehen des Untiers zu sich selbst und seiner Geschichte…“ (Das Untier, S. 8) Was den anthropofugalen Philosophen auszeichnet, ist nach Horstmann, dass er – analog zu einer Rakete, die schnell genug ist, um die Anziehungskraft der Erde zu überwinden und das Weltall erreicht – eine intellektuelle Fluchtgeschwindigkeit erreicht hat, die es ihm gestattet, der Gravitation „jener ideologischen Einflusssphäre und Kraft zu entkommen, die die Untiere nach wie vor mit beiden Beinen auf dem Bode der Tatsachen hält und ihnen den Blick über den Horizont verwehrt.“ (a.a.O., S. 9) Nehmen wir die anthropofugale Perspektive bzw. das Erreichen das humanistischen intellektuellen Fluchtgeschwindigkeit in unsere interne Differenzierung auf, so ergibt sich etwa folgendes Bild:
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