Onto-ethischer Nihilist (ontofugal): „Die Welt als Ganzes würde besser nicht existieren!“
Rejektionist (Daseinsverneiner): „O wär‘ ich nie geboren!“
Anthropofugaler: „Es wäre besser, wenn Menschen nicht existieren würden.“
Antinatalist: Jede Handlung, die dazu führt, dass ein neuer Mensch zu existieren beginnt, ist moralisch bedenklich, und es ist geboten, die Fortzeugung einzustellen, damit die Menschheit ausstirbt.
Zwar formuliert Horstmann etwa mit Blick auf die mythologisch überlieferten Sündfluten: „Dass es besser wäre, wenn es nicht wäre, hat sich das Untier immer schon auf die ein oder andere Weise eingestanden.“ (10) Gleichwohl steht Horstmann mit der von ihm eingenommenen anthropofugalen Perspektive noch im Vorhof des Antinatalismus, was sich insbesondere daran bemerkbar macht, dass seine konkrete Perspektive auf eine moralische Vision verzichtet. Stattdessen sucht Horstmann eine alles Leiden beenden sollende Zuflucht in einer durch ABC-Waffen bewirkten unmoralischen Apokalypse. In diesem unmoralischen Sinne formulierte bereits Albert Ehrenstein in seinem Gedicht „Der Kriegsgott“:
„[…] Lasset ab, den Gott zu rufen, der nicht hört. / Nicht hintersinnet ihr dies: / Ein kleiner Unterteufel{3} herrscht auf der Erde, / […] / Bleibt noch ein Rest / Nach Ruhr und Pest, / Aufheult in mir die Lust, / Euch gänzlich zu beenden!“ (In: Kurt Pinthus (Hg.), Menschheitsdämmerung, S. 84f)
Rejektionsdestruktivismus
Autoren eines Handbuches zum Antinatalismus ziehen unweigerlich die Frage auf sich, warum sie für die Nachkommenlosigkeit argumentieren und werben, statt sich einem – wie man vielleicht meint – lohnenderen Unterfangen zu widmen, bei dem existierenden Menschen geholfen wird. Warum argumentative Energie dafür aufbringen, dass weitere Menschen nicht zu existieren beginnen – „denen“ aber durch „ihren“ Nichtexistenzbeginn offenkundig nicht geholfen wird –, wo doch Abermillionen Menschen existieren, denen man helfen könnte? Unsere Antwort auf diese berechtigte kritische Nachfrage lautet, dass nicht nur Taten moralisch verdienstvoll sein können, sondern auch Unterlassungen. Ein – vereinfachtes – Beispiel: Wer es unterlässt, die Umwelt zu verschmutzen, indem er einen Langstreckenflug annulliert, sorgt dafür, dass die Lebensbedingungen anderer Menschen besser sind als im Falle der nichtunterlassenen Umweltverschmutzung.
Einem leidenden Menschen beizustehen, ist eine gut Tat. Moralisch verdienstvoll ist es aber auch Kinderwünsche zu überdenken und sich nicht fortzupflanzen, weil dadurch (mindestens) ein beistandsbedürftiger Mensch weniger existiert, der seelische und körperliche Schmerzen durchstehen muss und der nicht umhin kommt, Krankheit und Tod naher Verwandter mitzuerleben und schließlich selbst sterben muss. Auch wenn sich „niemand“ benennen lässt, für den
es besser sein könnte, nicht zu existieren zu beginnen, ist es anerkanntermaßen schlecht, so zu handeln, dass „jemand“ sterben muss. Genau dies aber tut, wer so handelt, dass jemand infolge dieser Handlung zu existieren beginnt. Wer einen Menschen zeugt, handelt so, dass ein Mensch sterben muss, was außer in Fällen von Notwehr einhellig verurteilt wird. Kurz: Wenn wir sagen „Es ist besser, x zu tun oder y zu unterlassen“, kann die entsprechende Tat oder Unterlassung auch dann moralisch sein, wenn sich keine Person benennen lässt, für die „es“ besser ist. – Wir vergleichen dann Weltzustände und ziehen einen Weltzustand O ohne leidende (und frohe) Wesen einem Weltzustand M mit leidenden (und frohen) Wesen vor, auch wenn in Weltzustand niemand davon profitieren kann, dass es niemanden gibt. Aber es kann auch niemand darunter leiden, wenn es niemanden gibt. Während in Weltzustand M jemand da sein wird, der leidet.
Zur Antinatalismen-Sammlung
Der israelische Philosoph Saul
Smilansky ist mit mehreren bedeutenden Aufsätzen zum Antinatalismus hervorgetreten. Gleichwohl hat ihn seine intensive Beschäftigung mit dem Thema nicht vor der grotesken Fehleinschätzung bewahrt, Daseinsverfluchungen nach dem Vorbild
Hiobs (
Biblischer Antinatalismus) seien rar gesät. Selbstbezügliche Daseinsverfluchungen sind eine Vorform des Antinatalismus. Denn wir müssen annehmen, dass andere Personen in ähnliche Situationen geraten wie wir selbst. Und dann impliziert die – ethisch stets gebotene – Universalisierung des Wunsches, nie geboren zu sein, einen Zweifel daran, ob überhaupt jemand gezeugt und geboren werden sollte. Im Glauben, die Präsenz antinatalistischer Vorstufen in der kulturellen Überlieferung vernachlässigen zu können, sagt Smilansky:
„It also seems significant that there is so little expression of the wish not to have been born, or at least this is so with most people who live under objectively tolerable conditions. If life were so bad, then – even if we bracket the possibility of suicide – we could expect much more expression of the Job-like wish not to have been born, in common sentiments, literature and the like. The idea is culturally available. Yet the sentiment is hardly to be found, except with those who are by temperament unusually melancholy, or are in depression, or, like Job, have some good reason for feeling so.“ (Smilansky, Life is good, S. 73)
Unser Handbuch belegt, dass nicht nur Smilansky sich täuscht. Selbst Heinz
Rölleke, dem wir in Gestalt der Abhandlung „O wär‘ ich nie geboren…“ eine der umfassendsten Zusammenstellungen von
Niedagewesenseinswünschen verdanken, unterschätzt die Präsenz antinatalistischer Formeln grandios, wenn er beispielsweise sagt: „Im übrigen finden sich in der pathos- und emotionsfeindlichen Gegenwartsliteratur weder direkte Verfluchung noch Preisung der Geburt. Offenbar nimmt man das Dasein eher als unabänderlich-undurchschaubare Realität hin.“ (Rölleke, S. 29)
Im Hinblick auf zahlreiche von uns und anderen Autoren aus Lyrik, Drama und erzählender Literatur zusammengetragene und kommentierte Deklamationen des „O wär‘ ich nicht geboren!“ sowie hinsichtlich anderer Antinatalismen ist zweierlei zu berücksichtigen. Zum einen ist zu bedenken, dass es sich in der großen Mehrzahl der Fälle um Äußerungen des Selbstverständnisses fiktionaler Figuren handelt, nicht hingegen notwendigerweise um Überzeugungen der jeweiligen Autoren. Zum anderen ist zu beachten, dass in diesen Ausrufen oftmals nicht mehr als eine momentane Niedergeschlagenheit zum Ausdruck kommt und dass sich aus derartigen transitorischen Stimmungen nicht auf die Weltanschauung einer literarischen Figur oder gar des sie gestaltenden Autors schließen lässt. Von daher stellt sich die Frage, ob wir spontanen
Niedagewesenseinswünschen und antinatalistischen Spuren nicht zu viel Gewicht beimessen. Auf diesen Einwand wäre zu antworten, dass die literarische Überlieferung derart viele Antinatalismen (indirekte oder explizite antinatalistische Formen oder Aussagen) birgt, dass dem Antinatalismus in der Literatur allein schon durch die Vielzahl der Belege ein nicht zu unterschlagendes Gewicht zukommt – so ephemer die einzelne antinatalistische Äußerung im Kontext eines Romans, Dramas oder Gedichts auch scheinen mag. Ferner ist in Rechnung zu stellen, dass in der Literatur anzutreffende antinatalistische Topoi sedimentierte überindividuelle Stimmungen oder Strömungen sein können, die zunächst Eingang in den geistigen Haushalt Gebildeter finden mussten, um schließlich literarisch verarbeitet werden zu können, was für eine gewisse außertextuelle Präsenz spricht. Ein Beispiel hierfür ist Emile
Zolas Roman
Fruchtbarkeit.
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