Lässt man den mit dem Wort „Philanthropie“ einhergehenden Anthropozentrismus hinter sich und berücksichtigt man alle empfindenden Wesen, so lautet der Leitsatz eines in diesem Sinne universalisierten Antinatalismus: Hilf allen existierenden
Lebewesen so gut du kannst und argumentiere dahingehend, dass keine neuen Lebewesen zu existieren beginnen.
Der Vorwurf der Kinderfeindlichkeit
„Antinatalisten sind dagegen, dass weitere Kinder das
Licht der Welt erblicken, deshalb sind Antinatalisten gegen Kinder.“ So oder ähnlich lautet eine routinemäßig gegen Antinatalisten in Anschlag gebrachte Formel. Es ist eine Formel, die das Anliegen des Antinatalismus verzerrt. Nicht gegen Kinder spricht sich der Antinatalismus aus, sondern dafür, dass bereits existierende Menschen eine etwaige Entscheidung, Nachkommen zu haben, revidieren. Nicht gegen existierende Kinder argumentiert der Antinatalismus, sondern für Nachkommenlosigkeit.
Als Philosophie der Nachkommenlosigkeit ist der Antinatalismus nicht gegen Kinder, sondern vielmehr an den Leiden orientiert, die Kinder durchmachen müssen, nachdem sie zu existieren begonnen haben. Die antinatalistische Moraltheorie bezieht einen erheblichen Teil ihrer Motivation aus den Leiden von Kindern und plädiert dafür, dass die Welt zunächst kindergerecht (und menschengerecht) gemacht werden müsste, bevor es moralisch vertretbar sein könnte, so zu handeln, dass weitere Kinder zu existieren beginnen. Solange die Welt nicht so menschengerecht eingerichtet ist, wie es in manchen
Utopien und Paradiesvorstellungen ausgemalt wurde, sollte im Sinne der antinatalistischen Moraltheorie von der Fortzeugung abgesehen werden (
Weltanpassungspriorität). Wäre es möglich, morgen eine Utopie des Wohllebens zu verwirklichen, in der Menschen keine Übel mehr widerfahren können, so hätte der Antinatalismus einen Teil seines moralischen Impetus und seiner Daseinsberechtigung verloren. Statt gegen Kinder zu sein, rufen Antinatalisten dazu auf, zu bedenken, was man einem weiteren Menschen zumutet, wenn man so handelt, dass ein neuer Mensch zu existieren beginnt. Ontologisch paradox ausgedrückt: Antinatalisten sind für das Recht von Kindern auf Nichtexistenz.
Individuelle, soziale, geographische und intergenerationelle Nichtkompensierbarkeit des Leids
Hat der Antinatalist den Vorwurf der Kinderfeindlichkeit und der Misanthropie abgewehrt, wird er unweigerlich darauf hingewiesen, dass das Leben nicht nur aus Leid besteht, sondern fast immer auch Glücksmomente und freudvolle Phasen enthält. Im Leben des Einzelnen kompensieren gewesenes und bevorstehendes Glück aktuelles Leid jedoch nur bedingt, nämlich nur das Leid einer bestimmten Intensität und dies nur in bestimmten Lebensabschnitten. Ähnlich kompensiert aktuelles Glück nur bedingt gewesenes und bevorstehendes Leid. Allgemein gesprochen ist die Trostkompetenz des Glücks recht begrenzt. Dies leuchtet zumal dann ein, wenn wir den Standpunkt einer Leid-Glück-Robinsonade verlassen und den Menschen als soziales Wesen betrachten: Auch eine Person, die ihr Leben als Tanz auf Rosen empfunden haben mag, erzeugt und hinterlässt normalerweise Trauernde, wenn sie – wie die Hinterbliebenen sagen mögen – unerwartet und ohne Anzeichen von Krankheit aus dem Leben scheidet. Ganz abgesehen von einem unverbesserlichen Optimismus, der diese Person zu einer Selbstbewertung des eigenen Lebens geführt haben mag, die sich krass von den Befunden einer Außenbewertung unterscheiden kann.
Ferner kompensiert auf der Ebene des Sozialen das relative Wohlleben einer Kaste, Klasse oder Schicht nicht das Leid einer anderen Bevölkerungsgruppe; vergleichsweises Wohlleben in fortgeschrittenen Industrienationen kompensiert nicht das Leid in Armuts-, Kriegs- oder Hungerregionen der Welt.
Intergenerationell kompensiert das Leben von Bürgern heutiger Wohlstandsgesellschaften nicht das Dasein in früheren Armutsgesellschaften; und der vage Ausblick auf eine materiell und psychisch befriedete, auch von der strukturellen Gewalt des Arbeitslebens befreite, Menschheit in kommenden Jahrhunderten kompensiert nicht die Nöte derjenigen, die heute und morgen minderbemittelt ihr Dasein fristen und in die Welt gesetzt werden.
Historisch informierter Antinatalismus
Wir vertreten einen historisch informierten Antinatalismus. Was bedeutet, dass wir die dokumentierte bisherige Geschichte als unseren besten Informanten für die
Conditio in/humana ernstnehmen. Die überlieferte Geschichte bietet für uns keinen vernünftigen Anlass zur Hoffnung dafür, dass „der Menschheit“ oder auch nur der überwiegenden Mehrzahl aller Menschen eine von Gerechtigkeitsprinzipien bestimmte, geschweige denn eine „goldene“ Zukunft bevorstehen könnte. Da niemand in die Zukunft zu blicken vermag, halten wir uns an die Vergangenheit und an die Gegenwart und extrapolieren: Ende des 19. Jahrhunderts wurde registriert, dass die naturwissenschaftlich instruierten Produktions- und Distributionstechniken einen Stand erlangt hatten, der es der gesamten Menschheit erlauben würde, ein befriedetes Dasein zu führen. Man verkündete die Machbarkeit des Utopischen, dessen Inaugurierung zu angeblich sozialistischen – in Wahrheit staatskapitalistischen – Gesellschaften führte, die ihre eigenen Bevölkerungen für das Glück einer unbestimmten Zukunft in Geiselhaft nahmen und somit die Vorstellung von einem befriedeten Dasein pervertierten.
Die Verheißungen des 19. Jahrhunderts und frühere Utopien sind nicht zuletzt deswegen nicht umsetzbar, weil der ins Riesenhafte angewachsene technologische Fortschritt – auf dem die Vorstellung von einem zufriedenen Zeitalter gründet – die für alle Verheißungen unabdingbaren Rohstoffe rasch zum Versiegen bringt oder seine Abfallprodukte die natürliche Basis pflanzlicher, tierischer und menschlicher Organismen unterminieren. Ganz zu schweigen davon, dass der gefeierte und nicht zu bestreitende Fortschritt von Produktivkräften immer auch einer Weiterentwicklung von Destruktivkräften Tür und Tor öffnet – wo es nicht ohnedies so ist, dass zivile Anwendungen sich erst im Fahrwasser einer weiterentwickelten Destruktivtechnologie ergeben haben (
Destruktivkraftentwicklung).
Der mittlerweile recht unbekannte belgische Literatur-Nobelpreisträger von 1911, Maurice Maeterlinck (1862–1949), stellt mit einem noch größeren Unbekannten die Frage nach Gründen für Perpetuierung der Menschheit in den Raum: „WARUM, so fragt Georges
Poulet in seinem unbekannten Meisterwerk ‚Nichts ist’, warum das Dasein einer Gattung verlängern, deren Entwicklung nur ihre Leidfähigkeit vermehrt?“ (Maeterlinck, Vor dem großen Schweigen, S. 134)
Eine überaus prägnante Fassung des historisch informierten Antinatalismus bietet Isaac Bashevis Singer (1902–1991): „The thought of raising children seemed absurd to him. Why prolong the human tragedy?“ (The Letter Writer, S. 265)
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