Für die Ahnenverwünschung wäre der Ausruf: „Ach, wären sich meine Ahnen doch nie begegnet!“ zu veranschlagen, wofür wir in Klabunds Kreidekreis einen mythischen Ausdruck finden:
„FAWU TSCHANG. Hättest du mich geschlagen! Da ich euch gebar, bin ich an allem Unheil schuld. Hätte ich euch nie geboren, und wären doch meine Ahnen nie auf die Erde herniedergestiegen!“ (Klabund, Der Kreidekreis, S. 470.) Die Ahnenverwünschung bezeichnet den Gegenpol zur Ahnenverehrung.
Elterntabu /
Elternverwünschung
Ahnungslosigkeit und Auslieferung
Man hat den Versuch unternommen, aus der Unvorhersehbarkeit der Zukunft ein pronatales Argument zu formen. Da man nur mutmaßen – niemals aber wissen – könne, wie es Kindern in der Zukunft wohl ergehen mag, seien wir auf Ahnungen angewiesen und dürften uns nicht anmaßen, über das Schicksal erhaben zu sein (siehe D. Thomä, Eltern, S.34). Von daher sei es prinzipiell gerechtfertigt, so zu handeln, dass ein weiterer Mensch zu existieren beginnt. Was dieses Argument nicht berücksichtigt, ist, dass wir durchaus nicht auf Mutmaßungen beschränkt sind. Der Volksmund weiß: Aus Kindern werden Leute. Und alle Leute haben ihr
Pensum zu leisten, Krankheiten zu erleiden, müssen Abschied nehmen und sterben. Diese Einsicht wird latent von allen gewusst, weshalb die pronatale Ahnungslosigkeit nur vorgeschützt ist.
Eine klarsichtige Auflistung mancher Übel, denen Eltern ihre Kinder ausliefern, hat George Eliot (1819–1880) in ihrem Roman Adam Bede zusammengestellt:
„»Yes,« said Hetty, rather frightened. »But why should you think I shall be in trouble? Do you know of anything?«
Hetty had seated herself as she tied on her cap, and now Dinah leaned forwards and took her hands as she answered –
»Because, dear, trouble comes to us all in this life: we set our hearts on things which it isn't God's will for us to have, and then we go sorrowing; the people we love are taken from us, and we can joy in nothing because they are not with us; sickness comes, and we faint under the burden of our feeble bodies; we go astray and do wrong, and bring ourselves into trouble with our fellow-men. There is no man or woman born into this world to whom some of these trials do not fall, and so I feel that some of them must happen to you.«“ (George Eliot, Adam Bede, S. 156f)
Aichinger, Ilse (1921–2016)
Ilse Aichinger ist eine bedeutende Anthropofugale und Dichterin des Verschwindens, deren Stellungnahmen wir in mehreren Artikeln dieses Handbuchs vorstellen. Auf die Frage: „Mögen Sie Menschen?“, antwortet Aichinger, eine bedeutende Anthropofugale und Dichterin des Verschwindens recht misanthropisch:
„Ich habe das Gefühl, sie sind das Miserabelste, was je gekommen ist. Es ist auch wahnsinnig unnötig, dass es so viele gibt. Eigentlich mag ich sie nicht. Aber ich mag einzelne und es wäre sehr schwierig, ohne diese bestimmten Menschen zu leben.“ (Ilse Aichinger, Es muss gar nichts bleiben, S. 218f)
Gattungsgesamtleid(ensbilanz) /
Gebärterror /
Infinitesimale Ichhaftigkeit
Infinitesimales Ich als subpersonales Post-Ich /
Nichtmehrdaseinsangst (Todesangst) /
Schongewesenseinswunsch /
Sterbensangst /
Terror der Biologie /
Überlebenswille, Überlebenstrieb /
Umweg Leben /
Verschwindenwollen/Verschwindenswunsch /
Wen die Götter lieben... /
Zumutung der Existenz
Umformung der antinatalistischen Substanz einer Religion, dergestalt, dass zumindest die Laienschaft ohne Heilseinbuße sich fortpflanzen kann. Eine pronatale Akkomodation erfuhren ursprünglich antinatalistisch strukturierte Religionen wie der Jainismus, Buddhismus und Manichäismus sowie das frühe Christentum. So gilt das Gebot nataler Enthaltsamkeit bei den Katharern nur für die Auserwählten (electi). Die sich in nataler Enthaltsamkeit übenden Jains oder Buddhisten wurden wirtschaftlich von einer sich fortpflanzenden Laienschaft versorgt, was als so verdienstvoll galt, dass die Laien keine schlechte Wiedergeburt befürchten mussten.
Akkusationstransformation
Während in der (griechischen) Antike ein unpersönliches Schicksal ob des eigenen Geborenseins gescholten wird, wird seit Hiob und Jeremias ein personaler Gott als
Daseinstäter angeklagt und zur Rechenschaft gezogen. In dem Maße, in dem seit der Aufklärung eine Emanzipation von Gott stattfindet – kulminierend in der Rede vom Gottestod – werden die sich fortzeugenden Menschen zu den anzuklagenden Daseinstätern.
Wir behandeln diese Akkusationstransformation in Gestalt der ihr korrespondierenden
Dizeetransformation: Ging es zunächst darum, in Anbetracht der Übel Gott zu verteidigen, der eine übelhaltige Welt schuf und Menschen in sie hineinsetzte, so muss es aufgeklärten Menschen darum gehen, jene Menschen zu verteidigen, die Menschen in eine unzuträgliche Welt hineinzeugen. Zur Illustration zitieren wir die beiden ersten Strophen aus Wildgans‘ (1881–1932) Gedicht „Der arme Narr betet“:
„Du bist so groß, mein Gott, so stark und gut! / Nimm dich denn auch des armen Narren an – / Tauge ich nichts, ich bin nicht schuld daran: / Du mischtest selbst mir Mark, Gehirn und Blut.
Den Kopf voll Träumen, eine hohe Welt, / Im Herzen eine tolle Leidenschaft, / Und in den Knochen keinen Funken Kraft – / So hast du mich in dieses Sein gestellt.“ (Wildgans, Gedichte, S. 74)
Im Zuge der
Gottesimplosion entfällt der bisher leistungsfähigste Schuldableiter. In den Vordergrund treten die Eltern, die ihre Nachkommen „anmischen“ und in dieses Sein stellen, in dem sie zu Taugenichtsen werden mögen.
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