Fast jeden Mittag trafen sich nun Helmut seine frischgebackenen Luftwaffenhelferin Clairchen, wenn sie entweder von der Wache des Flugmeldedienstes kam oder dorthin hinaufging. Das blaue Tuch der Uniform steht gut zum Blau ihrer seelenvollen Augen, fand er. Ansonsten versuchte er, sich in das deutsche Strafrecht einzuarbeiten.
Am Freitag, dem Dreizehnten, war er mit Clairchen im Südpark. Es war ein schön ausklingender Oktobertag. Das Dunkel fiel dann ziemlich schnell über das stehende Parkgewässer herein. Clairchen begann leise an seiner Seite zu singen. Es kam ihm vor wie das frühlingswehe Nachklingen einer Seele. Denken aber musste er an eine, die ihm lieber war als jede andere. Die unvergessene Schummerstunde daheim mit Edith in seinem Zimmerchen stieg vor ihm auf. Kann man denn eine andere küssen und innerlich trotzdem treu bleiben? Er glaubte in diesem Moment, ja.
Lange verdrängen konnte man die Realität des Krieges nun nicht mehr. Eine Folge der Angriffe auf Oberschlesien waren zum Beispiel die fortwährenden Zugverspätungen, was sich für die Studenten des Wintersemesters sehr unangenehm auswirkte. Hinzu kam die jetzt quälend lange Laufzeit der Post.
Wieder mit Clairchen war er am Sonntag am Jungfernsee, am linken Oderufer außerhalb von Breslau. Er musste an die tragische Sage denken, durch die der See zu seinem Namen gekommen war, und erzählte ihr davon. Es wurde ein herrlicher, fast fünfstündiger Spaziergang durch die herbstliche Landschaft. Die ruhige Natur tat beiden so wohl in dieser Zeit.
Montag gab es mittags und abends wieder Alarm. Flak-Feuer zwang alle, die gerade draußen waren, in den Splittergraben. Es wurde jetzt immer kühler.
Am folgenden Tag wurde um die Mittagszeit wieder Alarm ausgelöst. Das könne ja nett werden, meinte der Spieß im Lazarett. Abends sah Helmut mit Clairchen im Ufa-Palast den Film Die Zaubergeige mit Will Quadflieg. Herrlich. Clairchen fuhr anschließend für drei Tage nachhause zu ihren Eltern.
Indessen sorgte er sich um Edith. Sie hatte angeblich eine kleine Operation über sich ergehen lassen müssen und es gehe ihr nicht gut. Die Wunde hatte von innen zu eitern begonnen. Der verantwortliche Arzt sei ein ausgemachter Trottel gewesen.
Die Befürchtung der Studenten bezüglich der Unsicherheit und Unzuverlässigkeit der ungarischen innenpolitischen Verhältnisse hatte sich anscheinend bestätigt. Es fiel keinem leicht, noch an einen Endsieg zu glauben. Aber an eine andere Lösung wagte kaum einer zu denken.
Am Donnerstag war in Breslau Volksappell befohlen worden. Hunderttausend marschierten in Waffen aller Art auf. Ein Volksaufgebot. Verwundeter Student, so stand Helmut ein wenig peinlich berührt in der schauenden Menge. Unfassbar, man hatte härteste Notzeiten überstanden, war Sieger über viele Nationen gewesen, Beherrscher des riesigen Ostraumes bis an die Tore Asiens. Und jetzt das.
Der Vater sollte demnächst das Krankenhaus verlassen dürfen. Die Diagnose lautete: Gelenkrheumatismus, kranke Nieren und Kalkarmut. Eine nette, seltsame Versammlung von Übeln auf einem Haufen. Der Sohn hoffte nach wie vor auf eine glückliche Lösung. Vater ist doch mit seinen achtundvierzig Jahren noch kein alter Mann!
Helmut arbeitete jetzt intensiver denn je am Verwaltungsrecht und stellte fest, dass er mehr Schlaf brauchte. Am zweiundzwanzigsten war dann Clairchen von ihren Eltern zurück. Sie besuchten zusammen den Circus Busch. Anschließend Bummel durch die Anlagen am Stadtgraben. Er nutzte endlich die Gelegenheit zu einer ernstlichen Aussprache und stellte heraus, dass er keine festen Absichten hege und vor allem sich nicht klar sei über seine Neigung zu ihr. Er riet ihr schließlich zur Umkehr zu ihrem Verlobten. Über Edith fiel kein Wort. Clairchen fragte nicht nach und mochte nichts hören, sie wollte nur der Gegenwart leben. Doch ihre unendliche Traurigkeit und der innere Kampf blieben ihm nicht verborgen. So hoffte er, dass ein Besuch Ediths in Kattern schnell klare Verhältnisse schaffen würde. Er mochte Clairchen nicht einfach so wegstoßen, sie sollte von allein und ungekränkt gehen.
Die neue Woche begann mit schlechten Neuigkeiten. Brot und Schmiere, also Butter und Margarine, waren knapp geworden. Im Westen war Aachen gefallen. Die Rote Armee stand bereits in Ostpreußen. Die Studenten versuchen dennoch, all ihr Sinnen und Trachten auf das kommende Wintersemester zu richten. Da kam ein Brief an den Kameraden Jorg Kuppen über Umwege zurück. Aufschrift: Vermisst. Er stecke an der Westfront, hieß es. Hoffentlich gefangen, vermisst war ein böses Wort.
Immer häufiger hatte die Bahn jetzt Verspätung, weil die Vor-Züge mit sogenannten Schippen eingesetzt wurden, um die Gleise freizuräumen. Wahrscheinlich würde man deshalb im Wintersemester jeweils erst um neun Uhr fünfzehn im Hörsaal sein müssen.
Von der Mutter war ein Obstpaket eingetroffen. Ein Brief lag bei. Danach war der Vater am Montag aus dem Krankenhaus entlassen worden. Er müsse sich noch schonen und dürfe nicht arbeiten. Die Familie hoffte, dass alles wieder gut werde. Die Sorgen wurden größer. Und was würde der Winter noch bringen? In Ostpreußen tobten schwere Kämpfe. Kaum wagte man es, alle Befürchtungen zu Ende zu denken, und wollte am liebsten den Kopf in den Sand stecken.
Helmut hatte jetzt täglich vier Kollegstunden. Ein unangenehmer Schnupfen hatte sich eingestellt. Dazu kam ein lähmender Schmerz unterhalb des linken Schulterblattes. Dadurch war die Beweglichkeit des gesamten linken Armes eingeschränkt. Kein Wunder bei dem ständigen Luftzug durch die nur mit Pappe verkleideten Fenster. Eine Erinnerung an den letzten Bombenangriff.
Mit Hans O’Brien und Clairchen ging er am Sonnabend ins Capitol: Ein schöner Tag. Draußen war es nebelig und Regen fiel. Schon um neun am Abend kehrte er ins Kloster-Lazarett zurück, obwohl ihn am folgenden Tag die Luftschutzwache für den ganzen Tag ans Haus binden würde. Es ist manchmal so, manchmal so, dachte er bei sich: Ich kann an Edith denken und Clairchen trotzdem küssen. Aber eben nur manchmal.
Brandwache bedeutete diesmal vor allem Briefposterledigung. Und er wollte einen Tag mal ohne Paragrafen verbringen, da gestern der Kursus geschlossen worden war. Der Sonntag im Kloster mit dem relativ guten Essen und einem abwechslungsreichen Radioprogramm konnte die richtige Alternative werden.
Jetzt hatte auch der juristische Ferienkurs für Kriegsteilnehmer geschlossen. Helmut wollte sich deshalb in der nächsten Zeit intensiv mit dem Verwaltungsrecht befassen. Am ersten November sollte dann formell das Wintersemester beginnen. Wie gewöhnlich würden die eigentlichen Vorlesungen aber erst am sechsten anfangen.
Heinz Wilde, ein alter Freund, war auf Urlaub gekommen. Das junge Ehepaar Heinz und Hedwig lud Clairchen und Helmut zum Verspeisen einer Gans ein. Diese für die augenblickliche Zeit doch denkwürdige Zeremonie fand dann in einem schnell gemieteten Zimmer bei einer Frau Pfingst in Kattern statt, wo die beiden schon ihre erste Urlaubs-Ehenacht verbracht hatten. Hier wurde der Vogel dann auch gebraten. Dazu hatte man Rotkohl und Klöße zubereitet. Eine Flasche Rotwein, ein Riesenpudding und eingeweckte Stachelbeeren vervollständigten das Festmahl. Das total überraschte Clairchen war begeistert; endlich mal wieder ein herzhaftes Essen.
Es war schwer, Vernunft zu bewahren. Clairchen wurde vom Benehmen des jungen Paares angesteckt und sah Helmut unverhohlen mit heißem Verlangen an. Aber er dachte an ihren Verlobungsring und an Edith.
Zum offiziellen Semesterbeginn, am ersten November, traf er zufällig Karl Stange im Breslauer Hauptbahnhof. Auch er würde noch das Wintersemester belegen können. Von zuhause gab es inzwischen eine gute Nachricht: Jorg Kuppen sei unverwundet in englische Gefangenschaft geraten. Vielleicht würde demnächst Genaueres zu erfahren sein.
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