Um fünf Uhr fünfundfünfzig fuhr Ediths Zug ab. Langsam rollte er in den Morgen. Helmut blieb mit trauriger Hoffnung zurück.
Der Vater hatte plötzlich hohes Fieber und Brustschmerzen bekommen. Also musste man den Arzt holen und dann später noch einmal runter in die Stadt zur Apotheke laufen. Erschöpft nach alledem verschlief Helmut den ganzen Nachmittag.
Jetzt hieß es wieder, in den Alltag zurückfinden. Aber noch hatte er Edith ganz lebhaft vor seinen Augen. Er sah sie in der bestickten Bulgarenbluse mit dem weiten Nackenausschnitt und dem bunten Rock. Wie der blonde Haarknoten darin lag! Er war stolz. Er schloss manchmal die Augen und glaubte er, ihre weichen Lippen und die Nähe ihres Körpers zu spüren. Er dankte dem Himmel für die schönen Tage.
In der folgenden Woche tröstete sich Helmut im Kino: Romantische Brautfahrt wurde gespielt. Sehr nett, aber ungeheuer gegenwartsfremd, fand er, seiner eigenen Erfahrungen eingedenk. Er traf sich mit Rolf Stange. Sie radelten nach Reihwiesen und dabei musste er ständig an Edith denken. Auf dem Rückweg, nachdem sie sich getrennt hatten, traf er zufällig eine alte Bekannte, mit der er seinerzeit so manchen Tanz gewagt hatte. Nun war sie Kreisreferentin für Sport.
Nach ein paar Tagen war Vaters Fieber ziemlich zurückgegangen. Aber er hatte in der kurzen Zeit schrecklich abgenommen, obwohl es ihnen eigentlich an nichts fehlte.
Ein Brief von Edith traf ein. Sie hatte ihrer Mutter von der neuen Verbindung geschrieben und ihm nun deren Antwortbrief beigelegt. Darin klang alles sehr positiv. Helmut empfand Respekt und Mitgefühl für diese Frau. Denn schon seit elf Wochen wartete sie angeblich auf ein Lebenszeichen von ihrem zweiten Mann. Er stand an der Ostfront.
Am Donnerstag war er wieder im Kino, diesmal in Niklasdorf: Das Schweigen im Walde. Seltsamer Zufall, die Sportreferentin vom Dienstag saß neben ihm. Nach dem Film plauderten sie noch eine ganze Zeit lang auf der Dorfstraße über vergangene Zeiten. Es schien, als hoffe sie auf ein Wiedersehen. Aber dann verabschiedete man sich doch recht unverbindlich.
Am folgenden Morgen konnte er Edith telefonisch erreichen. Sie würde am Samstag kommen! Dann suchte er Vaters Arzt auf, um ihm über seinen Zustand zu berichten. Aber der Arzt war selber krank, also nicht erreichbar.
Helmut machte sich im Obstgarten nützlich, der liebliche Herbstanfang forderte dazu regelrecht heraus. Die Früchte halfen der Familie ein bisschen, die entstandenen Ernährungslücken zu füllen. Mit den Lebensmittelkarten allein kam man nicht mehr aus.
Der Vater war inzwischen wieder aus dem Bett, aber er sah weiterhin schlecht aus. Er hatte Helmut heute siebenhundert Reichsmark gegeben. Zusammen mit seiner eigenen Rücklage von tausenddreihundert Mark konnte er jetzt von einer Absicherung seines Studiums ausgehen, da er als Kriegsversehrter ja nur für die Bücher- und Lebenskosten aufkommen musste. Das Geld trug er umgehend auf die Kasse. Bis zum Staatsexamen hätte er so pro Semester fünfhundert Reichsmark zur Verfügung.
Am Sonntag war endlich Edith wieder da. Da sich das Wetter draußen kühl und trübe zeigte, trug sie einen rotbraunen Wintermantel und einen breitkrempigen blauen Hut dazu. Das Haar war nicht mehr zum Knoten gebunden. Sie hatte sich zwei Zöpfe geflochten und sie zu einem dichten Netz aufgesteckt, das tief in den Nacken reichte. Er fand, diese Frisur mache sie jugendlicher als der strenge Knoten.
Für den Nachmittag hatte Liesel die beiden zu sich nach Langenbrück eingeladen. Sie nahmen den Bummelzug. Eine Zugstreife versetzt sie plötzlich und kurzzeitig in Angstzustände mit starkem Herzklopfen. Aber die beiden Offiziere gaben sich mit seiner Kennkarte zufrieden. Nach Urlaubspapieren fragten sie nicht. Sie wussten nicht, ob aus Anständigkeit oder aus Dummheit, aber das war egal.
Liesel und Erhard empfingen und bewirteten sie auf das Liebenswürdigste. Mehrere Flaschen Wein und etliches an Cognac mussten daran glauben. Abends gegen zehn brachen sie vergnügt zu Fuß auf, zurück nach Ziegenhals.
Sie wollten über Wildgrund, Arnoldsdorf und Dürrkunzendorf gehen, um der Gefahr einer erneuten Zugkontrolle aus dem Wege zu gehen. Man dürfe dem Glück nicht ins Gesicht schlagen, meinte er. Außerdem, wer ginge nicht gern mit seinem Mädel im Arm stundenlang über dunkle Landstraßen, auch wenn der Himmel in der Ferne grollte.
Um Mitternacht erreichten sie Ziegenhals, da brach das Unwetter über sie herein. Mit Mühe und nur unvollständig konnten wir sie sich mit ihren dürftigen Regenhäuten schützen. In wenigen Minuten waren sie überall durchnässt. Seine Hosenbeine glichen eher Wassersäcken als schnittigen Beinkleidern. Aber die Stimmung blieb herrlich, auch dank des genossenen Weins.
Der folgende Montag gehörte nur den beiden. Das nutzten sie weidlich aus, denn es war ungewiss, wann sie sich wiedersehen würden. In der Abenddämmerung saß sie dann an seiner Seite und sang ihm mit leiser Stimme anrührende Lieder vor. Bald erkannte er nur noch den Schimmer ihrer Augen und Zähne. Schon erfasste beide Sehnsucht und Abschiedsschmerz.
Zum wiederholten Male stand Helmut am Dienstagabend wieder am Bahnsteig und musste dem Zug nachsehen. Viel zu schnell verschluckte die Dunkelheit den letzten Wagen und das winkende Tüchlein. Fröstelnd eilte er im Mondlicht nach Hause. In einer Woche würde sein Urlaub zu Ende sein und er müsste zurück ins Lazarett des Klosters Kattern. Er grübelte, was ihn wohl erwarten würde. Das Studium in Breslau, die Entlassung zum Ersatzdienst oder weiterhin der sture Lazarettaufenthalt? Gut, dass man es nicht vorher erraten konnte.
Edith hatte ihm ein großes koloriertes Foto dagelassen. Zusammen mit dem Vater, der für vier Wochen arbeitsunfähig geschrieben worden war, richtete er den beschädigten Rahmen des Bildes etwas her und hängte es an die schmale Wand dem Bett gegenüber auf, zwischen Bücherregal und Kleiderschrank. So schaute nun Edith ständig, etwas streng und frauenhaft, auf ihn herab, sobald er die Stube betrat. Die Koloration hatte sie allerdings ein wenig entstellt. Aber er freue sich, jetzt ein so großes Bild von ihr zu besitzen.
Wegen einer Erledigung suchte Helmut am nächsten Tag auch den Schlachthof auf. Dr. Schimke, Vaters Chef, machte ihm den Ernst vom Zustand seines Vaters klar. Was er leise befürchtet hatte, bewahrheitete sich. Der Vater war offenbar schwer krank.
Nachmittags ging Helmut mit der Mutter ins Kino: Die Liebe der Mitsu . Ein exotisch-interessanter Film, fanden sie.
Am Abend zeigten sich Vaters Fußgelenke geschwollen. Er konnte kaum die Beine heben. Helmut fürchtete um Vaters Herz. Hatte er nur zu gut gewusst, warum er ihm das Geld für das Studium gegeben hatte?
Am Tag darauf kam ein Brief von Edith. Ihr Stiefvater sei wahrscheinlich in russische Kriegsgefangenschaft geraten oder gar gefallen. Schwere Wolken türmten sich auf. Da wird ein großes Unwetter zu überstehen sein, dachte Helmut bei sich.
Am Donnertag, dem achtundzwanzigsten September, kam die Mutter mittags allein aus der Stadt zurück. Sie hatte den Vater im Krankenhaus zurücklassen müssen. Er war durchleuchtet worden, aber ein klarer Befund stand noch aus. Am Freitag besuchte Helmut den Vater und fand ihn im ersten Stock in einem größeren Zimmer mit der Nummer 31. Vater fühlte sich anscheinend wohl und sah auch wieder ganz zuversichtlich drein. Anscheinend fehlte den Organen nichts, was den Sohn doch sehr beruhigte. Der Arzt sprach von rheumatischen Beschwerden. Im Ganzen aber hatte er den Eindruck, dass man noch nicht klar sehe und weiter beobachte. Es blieb gute Hoffnung.
Nachmittags kamen Liesel und Söhnchen kurz zu Besuch. Abends war Helmut dann wieder mit der Mutter im Kino: Der Majoratsherr mit Willy Birgel und Viktoria von Ballasko. Ein typisch gepflegter und ausgeschliffener Gesellschaftsfilm, fand er. Die Mutter pflichtete ihm bei, Hauptsache er war in ihrer Nähe.
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