Helmut war fasziniert. Eng umspannte der braune Tuchrock Ediths Leib. Die weiße Bluse mit der prachtvollen Stickerei verbarg ihre vollen, festen Formen nicht. Das üppige blonde Haar, zum Knoten gebunden, verlieh Kopf und Nackenbeuge eine natürlich nordisch-frauliche Schönheit, wie sie keine andere Haartracht besser hätte ausdrücken können, empfand er. Mit strahlenden blauen Augen und frischem Mund vollendete sie für ihn ein Bild, das von da an fest in seiner Seele stand. Was wundert es da, wenn er die blühende Umgebung jetzt ganz außer Acht ließ.
Mit schöner Selbstverständlichkeit begrüßten Eltern, Liesel und Erhard den Besuch. Natürlich wurde auch das Neugeborene gebührend bewundert. Nach einem reichlichen Mittagessen gingen Edith und Helmut spazieren. Sie wollten mit sich allein sein.
Er führte sein Mädel über ihm altvertraute Waldpfade. Hochwaldwipfel rauschten über ihnen, man hörte die Ziegenhalser Biele plätschern. Sie gaben sich wie zwei glückliche Kinder, und er wunderte sich über seine neue Unbefangenheit. Dann geschah ein kleines Unglück. Beim Sprung über ein Rinnsal verstauchte sich Edith den linken Knöchel. Aber sie wollte trotzdem noch nicht nachhause. So liefen sie noch stundenlang im Wald umher. Ein schon lange drohendes Unwetter überraschte die beiden dann, und sie flüchteten in den dürftigen Schutz einer Schonung, bis alles wieder abgeklungen war. Als sie später ein wenig zerknittert das Haus erreichten, schien bereits wieder die Sonne. Ediths Knöchel war nun doch deutlich angeschwollen und musste mit essigsaurer Tonerde und einer elastischen Binde behandelt werden.
Abends um neun Uhr zwanzig ging Ediths Zug wieder zurück. Helmut stand am Bahnsteig und sah die Waggons allmählich verschwinden. Nichts hatte Bestand, am wenigsten schöne Stunden, dachte er.
Am Montag ging er mit Liesel und seinem kleinen Neffen im Kinderwagen spazieren. Das Kerlchen war jetzt achtzehn Tage alt. Achtzehn Kriegstage, von denen sie hier in ihrer kleinen geborgenen Welt noch nicht viel zu spüren bekamen.
Der Dienstag begann mit strahlendem Sonnenschein. Unter blauem Himmel überall Schwalben. Von Clairchen trafen unverhofft zwei Briefe ein, der eine war am Sonnabend, der andere am Sonntag geschrieben. Sie habe Sehnsucht nach ihm. Das hatte er irgendwie erwartet. Er freute sich, aber er fühlte sich nicht wohl dabei, wenn er an Edith dachte. Was sollte er tun? Beide Bilder lagen vor ihm. Das eine zeigte Edith, das andere Clairchen.
Nur gut, dass er jene Gisela in letzter Zeit gemieden hatte, dachte er. Er hatte ein gutes Gefühl dabei. Obwohl sie immer wieder versucht hatte, ihn auf dem Umweg über Hans O’Brien zu erreichen. Was zwischen ihr und ihm bestanden hatte, war von Anfang an ein Spiel gewesen, worüber sich beide eigentlich hatten im Klaren sein sollen.
Anders lagen die Dinge von Anfang an bei Edith und ihm. Hier herrschten sofort Zuneigung und Klarheit auf beiden Seiten.
Was aber war nun mit Clairchen? Was ihm ihr Mund noch verschwiegen hatte, die Feder hatte es ausgeplaudert, dachte er, nachdem er ihre Briefe gelesen hatte. Es gab keinen Grund, an ihrer Aufrichtigkeit zu zweifeln. Ihr Verlobter war achtundzwanzig Jahre alt und hatte eine gute Existenz aufgebaut. Warum also sollte sie Helmut etwas vormachen, was sie selbst nicht glaubte? Doch er hatte ihr nicht die geringste Hoffnung gemacht. Es sei denn, man wollte die schlichte Umarmung und ein paar Küsse als solche betrachten. Er hatte immer wieder betont, dass er an keine Bindung denken könne und ihren Ring respektieren wolle. Auch wusste sie um Edith. Musste er nun gewaltsam einen Strich ziehen oder durfte er sich, ohne zu freveln, nehmen, was die glückliche Gelegenheit bot? Wie verwerflich war es, mit der Braut eines Anderen zu flirten, wo sie es doch so wollte? Wie großzügig durfte man in solchen Herzensdingen sein? Er empfand dabei seltsamerweise keinen Verrat an Edith, in der er das jungfrische Leben und sein Mädchenideal liebte. Während es bei Clairchen die frauliche Reife und sehnsüchtige Zärtlichkeit des jungen Weibes war, die ihn anzog. Vielleicht ging es ihr mit ihm und ihrem Verlobten genauso. Wenn ich das ergründen könnte, dachte er.
In den nächsten Tagen rief Edith an Vaters Arbeitsplatz an, wo der gerade eine Fleischbeschau machte. Sie erwarte Helmut am kommenden Sonnabend in Kobelwitz für die Unterkunft sei gesorgt. Der Fuß mache ihr noch ein wenig zu schaffen.
Am sechzehnten August, Mittwoch, musste Helmut wegen dieses geplanten „Urlaubs im Urlaub“ auf die Kommandantur. Der Hauptmann gab sich ablehnend und machte Ausflüchte von wegen des totalen Krieges und so weiter. Mit viel Mühe erhielt er dann doch einen so genannten Zwischenurlaub. Sie würden uns also schon am Wochenende wiedersehen, diesmal bei ihr. Seine Freude war riesengroß.
Indessen waren die Alliierten in Südfrankreich gelandet. Das war für alle ein neues Zeichen für den Beginn des Endkampfes. Die Familie sprach nur kurz darüber, man hatte Angst, die Folgen auszudiskutieren. Man wagte es nicht, an einem guten Ausgang zu zweifeln.
An diesem Abend brach ein fürchterliches ein Gewitter nieder. Eine Getreidepuppe in den nahen Feldern wurde vom Blitz getroffen und ging in Flammen auf. Sie brannte hell wie eine Fackel, trotz des Regens.
Am nächsten Tag würde er bei Edith sein. Alles, was mit ihr zusammenhing, erschien ihm klar und von unumstößlicher Gewissheit. Möge der Himmel uns gewogen sein und bleiben, hoffte er.
Morgennebel lag über Bad Ziegenhals, als Helmut zum Bahnhof ging. Abfahrt war um neun Uhr achtzehn, die Bahn war pünktlich. Ratternde Waggons trugen ihn seiner Sehnsucht entgegen. Gegen Mittag erreichte er das Dominium Kobelwitz.
Auf dem Gutshof stand Herr Albrecht, der Besitzer. Er begrüßte den angekündigten Gast freundlich und führt ihn persönlich zu Edith in die Küche, wo er auch die Gutsfrau kennenlernte.
Edith konnte ihre überschäumende Freude kaum verbergen. Nun sah er sie zum ersten Mal im Arbeitsgewand. Sie trug den roten Friesrock ihrer Heimat. Ihre norddeutsche Erscheinung fiel hier besonders auf.
Am späten Nachmittag gingen sie an die nahe Oder hinunter. Der Fuhrmann überließ ihnen einen Kahn und sie ruderten hinüber zur Liebesinsel. Welches Glück, hier das geliebte Mädel im Arm halten zu können, dachte er. Das Wasser floss ruhig und stetig vorüber, dunkelrot ging die Sonne unter. Als sie verloschen war, ruderten sie zurück. Keiner sagte etwas. Sie waren sich dennoch ganz nah.
Später stand er in Ediths Stube. Wie Faust in Gretchens Kammer kam er sich vor, ohne aber deren Schicksal heraufbeschwören zu wollen. Durch die niedrigen Fenster konnte man den wunderschönen Sternenhimmel sehen. Es war angenehm kühl geworden, die Grillen zirpten leise.
Am Sonntagmorgen, als Helmut in seinem Zimmerchen aufstand, war die Herrschaft bereits zur Kirche gefahren. So gehörten den beiden an diesem Vormittag zwei ungestörte Stunden. Edith war in besonders ausgelassener Stimmung. Sie verbreitete überall ansteckenden Optimismus, ob in der Küche, im Garten oder in Gesellschaft der anderen Erntehelfer.
Helmut lernte ihre hiesigen Freundinnen kennen, die alle ein herzliches Verhältnis zu ihr hatten. Da er bei der Herrschaft als Ediths Bräutigam galt und das wohl in gewisser Hinsicht nach außen seinen Besuch rechtfertigen helfen musste, trugen sie Ringe wie zwei Verlobte. Ein Spiel, das Edith immer wieder zum Lachen reizte und ihr offenbar auch Freude bereitete.
Helmut fragte sich, ob es wirklich nur ein Spiel war und bleiben würde? Könne man sich mit zwanzig Jahren denn schon verloben und für die Zukunft fest binden? Doch er sei ja bald einundzwanzig. Aber daran liege es wohl nicht. Die Eltern würden bestimmt keine Schwierigkeiten machen. Nur traute er sich selbst nicht über den Weg. Natürlich liebte er Edith, hatte Sehnsucht nach ihren Lippen und der Wärme ihres festen, anschmiegsamen Leibes. War das aber die große Liebe, das letzte unbedingte Wollen? Er wusste die Antwort nicht. Vielleicht fehlt mir doch noch die Reife, gestand er sich ein.
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