Freitag fühlte er sich müde und war in diesem Zustand auch fähig, Clairchen ungerecht und verletzend zu behandeln. Sie war vormittags zu einer Impfung in Breslau gewesen und hatte ohnehin an den Folgen schon genug zu leiden.
Tags drauf versuche er vergeblich, etwas für Weihnachten zu ergattern, das als Geschenk geeignet wäre. Aber es zeigte sich als fast aussichtslos. Für den Vater und Schwager Erhard allerdings hatte er schon lange Tabakmarken gespart und dafür mehr als zweihundert Zigaretten erstanden. Immerhin kostete der Spaß immer noch vierzehn Reichsmark. Dabei wurde ihm klar, was er als Nichtraucher einsparte und wie viel Geld seine Kameraden in blauen Dunst verwandelten.
Edith teilte mit, dass sie ihre erstrebte Reisegenehmigung für eine Fahrt zu ihrer Mutter in die Nähe von Hannover erhalten habe. Sie werde dieses Weihnachtsfest daheim verbringen. Helmut sah sie nur ungern in das Bombengebiet fahren, wenn allerdings auch das Dominium Kobelwitz in letzter Zeit unter Bombern leiden musste. Natürlich hatte er ein wenig gehofft, zusammen mit ihr Weihnachten feiern zu können, entweder bei seinen Eltern zuhause, oder, falls er keinen Urlaub erhalten würde, hier in Kattern. Aber er achtete natürlich ihren Wunsch, das Fest mit Mutter und Schwester zu verleben, zumal die Mutter dringend nach ihr verlangt hatte. Edith würde also am Donnerstag die Reise antreten, aber auf einige Stunden in Breslau unterbrechen. Diese Zeit sollte ihnen beiden gehören.
Die neue Woche begann wie gewöhnlich. Es war etwas wärmer geworden, für Mitte Dezember fabelhaftes Wetter. Helmut war bis neunzehn Uhr an der Uni. Clairchen holt ihn ab und sie gingen bis zur Abfahrt des Zuges nach Kattern noch ins Café Hutmacher. Sie hatte sich frische Dauerwellen legen lassen.
Bis Donnerstag hörte er nichts von Edith. Das war ärgerlich. Als er dann gegen zehn, in der Uni, aus einem Flurfenster schaute, erblickte er sie unverhofft draußen. Sie war also schon da, sein Mädel war gekommen! Bedenkenlos schwänzte er den langweiligen Professor Hesse und eilte zu ihr. Sie blieben den ganzen langen Tag zusammen in der Stadt, obwohl es wieder kälter geworden war. Edith sah gesund aus und war recht munter. Da sie nun erst am nächsten Abend weiterreisen und zuvor ihre Verwandten in Kraftborn, einem Ort in der Nähe, besuchen wollte, fuhren beide um acht dort hin. In Kraftborn gab es eine Kaserne und Kommandobehörden. Er ließ sie jetzt allein, wenn auch ungern. Sie hatte nämlich einen unangenehmen Onkel, der aus unerfindlichen Gründen zürnen würde, wenn er von Ediths Verbindung mit ihm erführe. Sie wollten sich am folgenden Tag um siebzehn Uhr wieder auf dem Bahnhof Kattern treffen.
Am Freitag hatte Helmut bis dreizehn Uhr Vorlesungen. Alle Züge verspäteten sich, denn es hatte geschneit. Das Land war über Nacht weiß geworden. So traf er erst um drei in Kattern ein, von wo aus er Edith anrufen konnte. Unterwegs begegnete ihm Clairchen und er schützte Arbeit vor, um den Nachmittag für Edith freihalten zu können. Eine heikle Situation.
Edith traf dann, wie ausgemacht, auf dem Bahnhof ein, sie war schon vor Helmut da. Freudig berichtete sie von dem völligen Sinneswandel ihres Onkels ihm gegenüber und dass sie erst am Sonnabend spätabends mit ihrer Cousine zusammen nach Hannover fahren werde. So gehörte den beiden der Abend ganz allein, ungetrübt von dem Gedanken, der Onkel könne Ediths Ausbleiben krummnehmen. Die „Braunschweiger Tante“, die Edith schon immer sehr unterstützt hatte, schien sich mächtig für sie eingesetzt zu haben. Leider kannte Helmut sie noch nicht von Angesicht, also freuten sie sich einfach so über die unverhoffte Gelegenheit. Ein kleiner, mehr scherzhafter Streit über das Tragen der falschen Verlobungsringe konnte dem nichts anhaben. Es war nämlich so, dass Edith ihren Ring beständig trug, um die Notlüge ihrer beider Verlobung vor der Herrschaft auf dem Gut glaubwürdig aufrechterhalten zu können. Nun hätte sie wohl gern gesehen, dass Helmut wenigstens dann den Ring trug, wenn sie bei ihm war. Das aber suchte er zu vermeiden, weil ihm das Wissen aus dem Studium sagte, dass es hier auch so etwas wie eine conkludente Handlung gebe, also eine stillschweigende Zustimmung zu der so angezeigten Verbindung. Das aber lag vorläufig noch nicht in seiner Absicht.
Am nächsten Morgen begleitete ihn Clairchen zum Bahnhof. Sie war ahnungslos. Das Gegenteil wäre ihm angenehmer gewesen, redete er sich ein. Er verfolgte den Gedanken aber lieber nicht weiter. Er lenkte sich im Capitol ab: Die goldene Spinne . Dadurch verfehlte er dann Edith, die vormittags mit ihrer Tante in Breslau war. Zurück im Kloster, erhielt er einen Anruf von ihr. Sie werde ihn nochmals besuchen. Um vier dann sahen sie sich. Später, als sie sich wieder verabschieden mussten, standen schon die Sterne am klaren Winterhimmel. Am zehnten Januar fünfundvierzig wollten sie sich wiedersehen, so Gott wolle. Hoffentlich kommt sie ohne Schaden durch alle Fliegerangriffe, betete er, obwohl ihm der Kirchenglaube eigentlich fern war. Er wollte die Zeit jetzt nutzen, seine Verwaltungsarbeit zu Ende zu schreiben.
Am Sonntag war er dann abends bei Clairchen. Sie schien nach wie vor ohne Argwohn zu sein. Was sollte er tun, er konnte, er wollte sich noch nicht entscheiden. Seine komplizierte Lage beschäftigte ihn ohne Unterlass: Wenn ich Edith herzlich gern habe, so schätze ich doch andererseits Clairchens liebe Art und ihr Temperament. Ich kann beide nicht entbehren. Möge mir die eine die Stunden bei der anderen nicht übelnehmen.
Nach Mitternacht gab es Alarm. Durch die klare Winterluft hörte man in der Ferne sehr eindringlich das Donnern und Poltern von Bomben, etwa aus der Richtung Brieg - Oppeln.
Am nächsten Mittag, zwölf bis sechzehn Uhr, war wieder Alarm. Ein Massenansturm auf die Bahn hatte eingesetzt. Hoffentlich war Edith inzwischen wohlbehalten bei ihrer Mutter und Schwester eingetroffen, dachte Helmut. Berichten von Studenten aus Bonn zufolge, deren Universität völlig zerschlagen worden war und die mehrere Tage auf der Bahn hatten zubringen müssen, um Breslau zu erreichen, wurden die Züge bis weit ins Hinterland von Tieffliegern verfolgt. Und es gab Meldungen über den begonnenen deutschen Gegenangriff im Westen. Eine Nachricht, die bei manchem unbestimmte Hoffnungen weckte.
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