Helmut fragte sich, ob er hier, jetzt schon sein Lebensglück im Arm halte. Oder wäre das nur ein Rausch, verstärkt durch die heranrückenden Gefahren? Er war sich sicher, dass sie ihn liebte. Aber sie kannten sich erst wenige Monate. Ihr Zusammensein war bisher immer nur in Stunden zu zählen gewesen. Auch er liebte sie aus vollem Herzen, gewiss. Aber wenn er tief in sich hineinhörte, war er nicht ohne Zweifel an der Reife seiner Liebe. Es gab keinen Vergleich. Die Zukunft würde alles entscheiden müssen.
Um einundzwanzig Uhr einundzwanzig ging Ediths Zug zurück nach Cosel. Es blieb ihnen nur die Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen.
Zwei Tage lang hatte er in Seligkeit gelebt. Allmählich kehrte der Alltag wieder zurück und damit ins Bewusstsein die bedrohliche militärische Lage. Zuhause ernteten sie auf der Wiese Grummet. Schwester Liesel war krank, der Arzt musste kommen. Hoffentlich würde es sich nicht als Wochenbettfieber herausstellen, das fehlte noch.
Am Donnerstag kam ein Brief von Edith. Sie war gut, wenn auch mit wunder Ferse, auf dem Dominium Kobelwitz angekommen. Am Dienstag hatte es noch Großangriffe auf Fabriken in der Umgebung gegeben, trotz des sehr wechselhaften Wetters. Hoffnung und Glaube wurden zu ständigen Begleitern.
Liesel ging es bald darauf wieder ganz gut, es war nur eine harmlose Grippe gewesen. Helmut büffelte etwas Familienrecht, obwohl er nicht damit rechnen konnte, dass in absehbarer Zeit wieder ein ordentlicher Studienbetrieb aufgenommen würde. Er hatte die Nachricht bekommen, dass am Sonnabend sein Lazarett- und Stubenkamerad Heinz Wilde heiraten wolle. Er wünschte ihm in Gedanken und trotz oder wegen seiner Jugend alles Gute. Möge er mit seiner Hedwig glücklich werden.
Am Sonntag war es regnerisch, die Hundstage schienen endgültig vorüber zu sein. Diesmal ein Sonntag ohne Edith. Doch er hoffte auf das nächste Wochenende und war unendlich froh, dass sie so viel freie Zeit zur Verfügung hatte. Hoffentlich lässt sich der Gutsherr erweichen und bewilligt ihr acht Tage Urlaub, die sie dann hier bei mir verbringen kann, wünschte er sich. Und hoffentlich macht uns dann die Bahn keinen Strich durch die Rechnung.
Montag ging Helmut mit seiner Schwester in Ziegenhals ins Kino: Liebespremiere. Anschließend besuchten sie das befreundete junge Ehepaar Roter, das sich ein behagliches Nestchen gebaut hatte.
Was würde ihm bevorstehen, was durfte er erhoffen? Oder anders: Würde er je das erreichen, was diesen beiden, auch dank der Wohlhabenheit ihrer Eltern, wie eine reife Frucht in die Hände gefallen war? Und wann wäre das vielleicht der Fall? Oder aber der Ausgang des Krieges würde sie frei machen von allen diesen Sorgen, weil Tote keine Bedürfnisse mehr haben. Denn fast schien es jetzt so, als ob die erdrückende Anzahl von feindlichen Flugzeugen und Panzern allem ein Ende bereiten könnte. Der Führer und viele in der Bevölkerung glaubten noch panisch an den Sieg.
Der nächste Tag begann mit strahlend blauem Himmel. Man entdeckte hier und da schon herbstliches Laub. Helmut nutzte den Tag und wanderte los, ins Weite. Bald konnte er die Glatzer Berge am Horizont erkennen. Links, fast zum Greifen nah, die Berge des Altvatergebirges. Welch herrliches Panorama. Er versuchte, die Alltagsgerüchte zu vergessen und gab sich dem Augenblick hin. Neben ihnen hingen die prachtvollen reifen Fruchtdolden einer Eberesche. Ihr Rot stand im Kontrast zum tiefblauen Himmel. Am Berghang zogen zwei Ochsen mühsam einen Pflug durch die Erde. Das Leben der hiesigen Bauern war karg wie der Boden, den sie beackerten. Der Wind wehte lau. Schwalben sammelten sich auf Telefonleitungen und Giebelsimsen. Die kleinen Gärten waren voll reifer Früchte. Das Jahr stand an der Wende.
Wieder zuhause, wechselte er ständig zwischen der Ernte im Obstgarten und der Lektüre eines Romans. Dann las er endlich Clairchens Briefe. Sie waren voller Hoffnung und Sehnsucht nach einem Wiedersehen. Er konnte daran jetzt nicht denken.
Indessen bereitete der Vater die Fortsetzung einer langen Familientradition vor: Er würde wieder Obstwein herstellen. Johannisbeeren mussten gepflückt, gewaschen und ausgepresst werden. Der gezuckerte Saft wurde mit Zuchthefe in einem großen Glasballon zum Gären angesetzt. In einigen Tagen sollte es darin stürmisch zu glucksen und zu brodeln anfangen. Dann würde sich alles allmählich beruhigen, die Hefereste sich absetzen und der junge Wein würde allmählich rubinrot und ganz klar werden. Helmut freute sich auf die erste Probe. Und auf ein paar gute Flaschen zum Vorrat.
In der Stadt traf er den Freund Rolf Stange. Er hatte sechs Wochen Urlaub bekommen. Der Grund dafür war weniger erfreulich. Das chemische Werk in Blechhammer, wo er praktische Arbeit abzuleisten hatte, war von amerikanischen Bombern zerschlagen worden. Dann traf er noch, ganz unverhofft, seinen Schulfreund Erich Langer, er hat Urlaub aus Norwegen. Sie gingen zusammen ins Kino: Das große Abenteuer .
Rechtzeitig zum Wochenende kam am Freitag die erwünschte Nachricht von Edith. Sie werde am Sonntag kommen und bis Freitag bleiben können. Helmut konnte seine Freude kaum bezähmen und träumte von glücklichen Tagen. Die Eltern machten möglich, was ging, und das war in der augenblicklichen Lage nicht einfach. Dem kam entgegen, dass sie zuhause jetzt etwas mehr Platz hatten, denn Liesel war nach dem Wochenbett mit dem Baby in die eigene Wohnung in Langenbrück zurückgegangen. In den fünf Wochen war Helmut der Kleine sehr ans Herz gewachsen.
Er holte Edith wieder vom Bahnhof ab. Das Wetter passte zu seiner Stimmung. Fünf Tage wollten sie nur für sich selbst leben.
Der Montag begann trübe, aber nur, was die Witterung anbetraf. Sie wanderten durch die Wälder nach dem kleinen Bergdorf Reihwiesen, etwa achthundert Meter hoch, östlich von Freiwaldau. Als sie unterwegs am geheimnisvollen Großen Sühnteich standen, brach endlich die Sonne durch und schien bis zum Abend. Sie verbrachten den ganzen Tag einsam und glücklich miteinander. Erst gegen Anbruch der Nacht waren sie wieder zurück.
Am nächsten Tag besuchten sie Liesel und den kleinen Neffen in Langenbrück. Dann wollten sie ins Strandbad von Wildgrund. Wegen des unfreundlichen Wetters war es fast menschenleer. Auf dem Wege zur Ruine Edelstein kam Helmut die Melodie in den Sinn: Gewandert bin ich durch die Wälde r , und Be r ge wa r en stets mein Ziel… - das „Edelstein-Lied“. Da gab es plötzlich Fliegeralarm. Ein gewaltiges Brummen hinter den Bergen kündigte die Bomber an. Mehrere Verbände flogen hoch droben. Im Schatten eines Ahorns hielten sich die beiden still fest. Nach einer halben Stunde jagten die Flugzeuge in umgekehrter Richtung wieder zurück. Es gab Entwarnung.
Nach einem kleinen Fußmarsch erreichten sie dann Zuckmantel, wo sie zu einem unverhofft guten Mittagessen kamen. Helmut musste unwillkürlich an Franz Kafka denken, der hier als junger Student zweimal Erholung gesucht hatte. An einen Freund hatte er in dieser Zeit geschrieben, er sei schon die vierte Woche in einem schlesischen Sanatorium, sehr viel unter Menschen und Frauenzimmern und dadurch ziemlich lebendig geworden.
Der Mittagsschlaf an einer sonnigen Stelle auf der Wiese am Schlossberg raubte den beiden dann so viel Zeit, dass sie sich schleunigst auf den Rückweg machen mussten. Das Wandern bereitete ihnen große Freude, aber es war ja nur Mittel für das glückliche Zusammensein.
Am vierzehnten September, Donnerstag, war der letzte gemeinsame Tag. Sie besuchten Vater auf dem Schlachthof, trafen Rolf Stange und gingen anschließend miteinander ins Kino: Das lustige Kleeblatt von Erich Engels.
Sie wollten es nicht fassen, dass die schöne Zeit schon wieder vorbei war. Die ganze Nacht wachten sie durch, nur um keine Stunde zu verlieren. Und am Morgen konnten sie sich in die Augen schauen und hatten sich nichts vorzuwerfen. Ein Fehler?
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