Am nächsten Tag sah er Clairchen wieder, in Scheitning. Unweit der Jahrhunderthalle, die zum Anlass des 100. Jahrestages der Schlacht bei Leipzig erbaut worden war, plagten sie die Mücken. Clairchen gab sich wie immer. Sie eröffnete ihm, dass sie zu einem zweitägigen Kursus von Kattern aus nach Breslau kommandiert worden sei.
Über Mittag war Fliegeralarm, den sie aber auf dem Rasen in den Anlagen am Lessingplatz verschliefen.
Dienstag gab es im Gloria Palast den Film Träumerei, die Geschichte um Robert und Clara Schumann. Helmut sah ihn allein. Da Clairchen danach den ganzen Nachmittag Zeit hatte, verbrachten sie die Stunden gemeinsam. Um zwanzig Uhr musste sie dann zum Unterricht gehen.
Am neunten August war Helmut, so unglaublich das für alle Beteiligten war, zuhause bei den Eltern in Bad Ziegenhals. Er hatte tatsächlich acht Wochen Urlaub von Lazarett und Wehrmacht bekommen, was für ein Geschenk! Er wusste nicht so recht, womit er sich das verdient hatte. Offenbar dürfe man bei manchen Geschenken nach dem Warum nicht fragen, sondern müsse sich freuen und allein den Vorteil mit Händen erfassen, sagte er sich vergnügt.
Von seinem Glück hatte Helmut erst um neun Uhr am Abend zuvor erfahren. Noch in der Nacht wurde gepackt. Früh dann die Lauferei und Abmelderei. Dann ging es mit dem schweren Gepäck, er wollte unbedingt alles mitnehmen, auch die Bücher, zum Bahnhof Kattern. Es war wieder ein glühender Augustnachmittag. Und er wollte obendrein vor der Abreise noch einmal nach Breslau, zu Clairchen.
Zwanzig Minuten blieben den beiden zum Abschied. Sie standen am Stadtgraben und schauten den Kähnen nach. In einem ruderte ein Pärchen dahin. Clairchen war voller Wehmut und Trauer, aber sie gab sich sehr gefasst und verständnisvoll. Nur die Plötzlichkeit des Abschieds traf sie hart. Denn sie hatten eigentlich schon Pläne für mehr als eine Wochendauer gemacht und wollten den ausgehenden Sommer in glücklicher Unbefangenheit genießen. Auch ihm tat es jetzt weh, Clairchen so verlassen zu müssen.
Später dann, im Bummelzug, begrüßte er die Entwicklung der Verhältnisse. Die Trennung mochte hoffentlich dazu beitragen, gerade und klare Linien zu ziehen.
Gegen achtzehn Uhr traf er im Stadtbahnhof von Ziegenhals ein. Mit Mühe und ein bisschen Raten erreichte er die nicht sehr weit entfernte Wohnung der Großeltern, wo er auch den schweren Bücherkoffer absetzen konnte.
Über die Erhebung der Teufelskanzel, auf der sie in der Kindheit so gern als Indianer herumgekraxelt waren, gelangte er endlich und auf dem kürzestem Wege nachhause, wo er freudige Überraschung auslöste.
Hier sah Helmut zum ersten Mal seinen kleinen Neffen und die junge glückliche Mutter, seine Schwester: Ein prächtiges Kerlchen hat sie da geboren, dachte er und hoffte dabei auf eine ähnliche Zukunft.
Am nächsten Tag musste er sich bei den örtlichen Militärbehörden anmelden. Anschließend brachte er einen Teil der bei den Großeltern abgestellten Bücher nachhause, später dann den Koffer mit dem Rest.
Er dachte an seinen Kameraden und Stubengenossen Hans O’Brien, wie der ausgerufen hatte, als sie den Urlaubsschein in den Händen hielten: O Herr, was haben wir verbrochen, dass es uns so gut geht!
Wie schön es zuhause war! Hinten, im langgestreckten Garten, neigten sich die Bäume unter der Last des Obstes. Vor dem Haus prangten Blumen in allen Farben. In der Ferne schimmerten die vertrauten Berge im Dunst der Augusthitze. Passte in diese Idylle eigentlich das Wort Krieg? Im Augenblick war hier nichts davon zu spüren.
Der Schwester, Liesel, hatte die beschwerliche erste Geburt nichts von ihrem Charme nehmen können. Das Kind war ein außerordentlich hübscher und lieber Junge. Wie stolz erst die Großeltern waren. Und besonders der junge Vater. Er hatte jetzt endlich eine eigene Familie. Selbst war er seit dem dritten Lebensjahr Waise. Sein Vater war im ersten Weltkrieg geblieben, die Mutter an der Blauen Grippe gestorben. Eine Tante und die Großmutter hatten sich um ihn gekümmert.
Das Häuschen der Eltern in Ziegenhals im Eichwald schien enger geworden zu sein, zumal vorübergehend die junge Familie jetzt ebenfalls hier wohnte und Helmut unverhofft heimgekommen war. Liesel sollte in Ruhe erst einmal das Wochenbett überstehen. Aber Helmut hatte es dennoch recht bequem, weil man ihm sein Zimmer wieder völlig überlassen hatte.
So ging alles bald wieder den alten Trott und Schlendrian, was ihn nach der Regelmäßigkeit und der Peinlichkeit des Lazarettlebens, die in Kattern in allem herrschten, zunächst etwas irritierte. Doch fühlte er, dass es nicht schwer würde, sich umzugewöhnen.
Am zwölften August neunzehnhundertvierundvierzig war offizieller Semesterabschluss. Praktisch aber hatte der Vorlesungsbetrieb schon am sechsten geschlossen, so dass er durch seine frühe Abreise keine Nachteile befürchten musste.
Rückschauend sagte er sich, dass dieses Semester noch um vieles erlebnisreicher gewesen war als das davor. Vielleicht war es die bislang schönste Zeit seines Lebens gewesen. Was im Winter noch Sehnen und Hoffen gewesen war, hatte nun im Sommer unterm Sternenhimmel und dem rauschenden Laubwerk eines Parks Erfüllung gefunden. Leider aber nicht immer zum Vorteil seiner wissenschaftlichen Arbeiten. Die Aufführungen von Hamlet und Turandot mochten Höhepunkte gewesen sein. Sie hatten aber die anderen, starken inneren Erlebnisse nicht übertreffen können.
Wohl hatte er eine Charlotte verloren, aber Edith gewonnen, sein blondes Mädel. Insgeheim war sie seine Sonne und die Zukunft. Er war mit Gisela gegangen, einem äußerlich schillernden und innen schalen Schmetterling. Darauf hatte er unverhofft Clairchen kennen gelernt, dieses reife und warme Mädchen voller Sehnsucht nach Liebe und Verstehen. Sie war für den jungen, trotz allem noch wenig erfahrenen Mann ein herrliches Geschenk. Denn er sehnte sich wohl nach ihrer Zärtlichkeit und fraulichen Wärme.
Dann kam ein Brief von Edith mit der Anfrage, ob ihr Besuch am Sonntag recht sei. Wieder einmal konnte Helmut nur staunend vor der impulsiven Entschlusskraft dieses Mädels stehen, obwohl es natürlich lang besprochene Sache war, dass sie sich im Eichwald sehen wollten. Er ging also gegen Mittag in die Stadt, rief sie zurück und bat sie herzlich zu kommen. Am nächsten Morgen, Sonntag früh um acht Uhr, wollte Edith im Hauptbahnhof Breslau eintreffen. Sie kam von einem strategisch günstig an der Oder gelegenen Gut bei Cosel her, der alten Grenzburg zwischen Polen und Mähren. Helmut freute sich ungeheuer.
Die Eltern würden keine Schwierigkeiten wegen des plötzlichen Besuchs machen. Im Gegenteil, sie taten alles, um dann der ihnen noch unbekannten jungen Frau einen angenehmen Empfang zu bereiten. Er war erleichtert und sehr dankbar.
Erhard, der Schwager, hatte eine neue Dienstpistole bekommen. Man probierte sie hinten am Schuppen im Obstgarten aus. Danach versuchten die zwei Armverletzten, mit einer großen Gartenschere die Ligusterhecke zu schneiden. Jeder fasst mit seinem brauchbaren Arm zu, was auch endlich zu einem mühsamen, aber eben doch brauchbaren Erfolg führte.
Am Sonntag kam früh gegen sieben Uhr der Oberförster vorbei. Edith hatte bei ihm angerufen und ließ ausrichten, dass sie erst mit dem späteren Zug eintreffen werde. Wie sie dann später erfuhren, hatte sie spontan im Telefonbuch jemanden gesucht und gefunden, der auch im Eichwald wohnte, und ihn einfach angerufen.
Um zehn Uhr siebenundzwanzig fuhr dann der Zug im Breslauer Bahnhof ein. Edith erkannte ihn sofort, obwohl er weitab von ihrem Waggon wartete. Sie sah frisch und allerliebst aus. Schnell stieg er ein, um mit ihr weiter bis nach Ziegenhals zu fahren. Von dort aus gingen sie dann durch den Wald und über die Promenaden zum Eichwald 12.
Als Helmut wieder diese kraftvolle und selbstbewusste Erscheinung in ihrer norddeutschen Herbheit neben sich sah, glaubte er zu begreifen, warum Edith es in ihrer Stellung auf dem Kobelwitzer Gut bei Cosel nicht aushalten würde und gekündigt hatte. Die Unterschiede zwischen den Mentalitäten waren wohl zu groß.
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