Mittags saßen alle mit der Herrschaft am Tisch. Man kam den „Verlobten“ äußerst freundlich, ja liebenswürdig entgegen. Die Gutsfrau, die hier alle unter sich Adele nannten, belegte Helmut auffällig oft mit Beschlag. Dann ging ihre Unterhaltung im bunten Zickzack von Goethe über Raffael, da Vinci, Michelangelo, Schumann und Schiller bis zur Hühnerzucht und zum Rezept eines Apfelstrudels. Edith raunte ihn mehr als einmal mit einem kleinen Rippenstoß an, ob denn Adele oder sie Besuch habe.
Nach einer gemütlichen Jause, die sich die Herrin nicht nehmen ließ, gingen die beiden an die Oder baden. Mit Stolz stellte er fest, dass Edith mit ihrer Figur auch das Badetrikot nicht zu scheuen brauchte. So weit entkleidet hatte er die junge Frau noch nicht gesehen. Öffnet sie jetzt noch ihren Knoten, dachte er, so dass sich die Fülle des blonden Haars über Nacken und Schultern ergießt, dann gleicht sie einem Engel. Den zu küssen konnte keine Sünde sein.
Der Bruder einer von Ediths Freundinnen konnte in Cosel Kinokarten besorgt. So sahen sie am Abend den Film Glück unterwegs . Wie stimmungsvoll und passend. Nach einem kleinen Nachttrunk wanderten sie unterm Sternenhimmel nach Kobelwitz zurück. Leichter Dunst schwebte über der Oderniederung. Edith erzählte von ihrer fernen niederdeutschen Heimat und den Angehörigen.
Es war zwei Uhr morgens, als Helmut auf leisen Sohlen ihre Kammer verließ und unbemerkt sein Zimmerchen im ersten Stock erreichte.
Er kuschelte sich in die Decke: Schönere Urlaubstage hatte er noch nie erlebt. Obwohl Edith im Bett lag, als er sich hinausschlich, war doch nichts geschehen, was das Licht der Sonne zu scheuen hätte. Er wollte sich dieses Mädel aufbewahren. Wenn sie beide denn stark blieben.
Am frühen Morgen wurde Helmut von zarter Hand geweckt. So könnte es immer sein, hoffte er verträumt.
Glühende Hundstagshitze brütete diese Tage über dem Gut. Ein Erntewagen nach dem anderen rollte in die große Scheune. Edith hatte den Nachmittag frei bekommen. In seinen Arm geschmiegt, las sie ihm auf dem Bettrand die Briefe ihrer Angehörigen und Freundschaften vor. So viel Vertrauen war zwischen ihnen. Helmut vergaß alles, den Krieg, die Verwundung, die ungewisse Zukunft. Nur sein Mädel spürte er, ihre Lippen auf den seinen.
Der kurze Urlaub ging am Montag zu Ende. Nach einem herzlichen Abschied von der Herrschaft wanderten sie am Nachmittag auf Cosel zu. Am Oderufer wehte eine angenehme Kühle vom Wasser her, sie setzten sich noch einmal nieder.
In Cosel fanden sie noch ein gutes Abendbrot und gingen danach in der Abenddämmerung auf den Bahnhof zu. Die Mondsichel war schon zu sehen, die ersten Sterne blinkten. Durch ihre dünne Bluse hindurch glaubte Helmut, Ediths Herzschlag zu spüren, wenn sie sich an ihn schmiegte. Der Abend war unglaublich lau, ihm schien das Glück vollkommen. Um einundzwanzig Uhr siebenunddreißig fuhr der Zug ein. An den innigen Abschied knüpften sie die Gewissheit eines baldigen Wiedersehens. Gegen ein Uhr nachts erreichte Helmut das Elternhaus am Eichwald.
Auch am Dienstag herrschte Hundstagshitze. Er verschlief fast den ganzen Tag. Kurz vor Mitternacht raffte er sich auf und schrieb noch an Edith. Von Clairchen hatte er zuhause vier Briefe vorgefunden. Aber öffnen konnte er sie jetzt nicht. Die Gedanken waren nicht frei dafür.
Mittwoch war es immer noch unerträglich heiß. Man konnte eigentlich nicht arbeiten. Nicht einmal in der Kühle des Hauses oder im schattigen Garten fand er in seinen sonst so geliebten Juristereien Ablenkung und döste nur und las planlos herum.
Der Vater war wieder im Schlachthof tätig. Dort hatte er spontan einen jungen Hund gekauft. Helmut holte den Welpen zu Fuß ab. Ein allerliebstes Kerlchen, hellbraun mit weißen Pfötchen.
Über dieser Idylle ließ sich der dräuende Krieg nicht wegwischen. Da nun nach Meinung aller Bekannten die akute und unmittelbare Gefahr im Osten gebannt schien, brannte es ganz offenbar im Westen. Wo sind unsere Stoßarmeen? Oder stimmt das Geraune, dass wir wohl Menschen, aber keine schweren Waffen hätten? Diesen Mangel kannte Helmut noch von der Front, wie alle deutschen Soldaten inzwischen, zur Genüge.
Und wenn wir Paris den Alliierten überlassen müssen? Soll der Westwall doch noch seine Kraftprobe haben! Alles bange Fragen. Und über Oberschlesien wütete nun auch der Bombenterror der Amerikaner. Jeder Alarm ließ ihn für sein Mädel in Cosel bangen. Doch was hätte es ihr genützt, nachhause zu ihrer Mutter ins Hannoversche zu fahren? Dort rollten die Angriffe in noch dichterer Folge als hier.
Helmut fragte sich, ob man denn nun schon in der früheren Lage wie damals der Ort Bunzelwitz sei. Vergleiche mit der friderizianischen Zeit waren unter den Kameraden gerade beliebt. August bis September 1761, im Siebenjährigen Krieg, hatte Friedrichs des Großen Armee im befestigten Lager beim schlesischen Bunzelwitz, in der Nähe von Schweidnitz, gelegen. Sein Heer von dreiundfünfzigtausend Mann war umgeben gewesen von feindlichen österreichischen und russischen Kräften in der Stärke von hundertdreißigtausend Soldaten und Kombattanten. Aber die Feinde hatten gezögert. Die Österreicher planten einen detaillierten Angriff, doch die Russen lehnten ab. Sie zogen sich über die Oder zurück, es gebe Versorgungsschwierigkeiten, hatte es geheißen.
Helmut fürchtete, dass noch dieses Jahr der Wall an Weichsel und Karpaten, Westwall und Alpen zeigen müssten, ob sie halten. Dann Verrat in Rumänien. Das Öl vom Balkan schien verloren. Noch lebte der Führer und das Volk glaubte größtenteils an ihn und an einen Sieg, schon aus purer Verzweiflung.
Am Freitag gab es wieder einmal Alarm. Doch der blieb hier wie bisher ohne ernstliche Folgen. Edith hatte den Vater im Schlachthof angerufen. Sie würde, wie er dem Sohn dann ausrichtete, mit großer Wahrscheinlichkeit bald zu ihm nachhause in Ziegenhals kommen. Er solle Sonntag um acht Uhr am Breslauer Hauptbahnhof sein. Welch unverhoffte Freude! War sein Lazaretturlaub hier erst zu Ende und musste er darauf wieder in Kattern antreten, konnte es sehr lange dauern, bis sie sich wiedersähen: Urlaubssperre, Bahnsperre und so weiter.
Kämpfe um Paris! Würde man die Seine-Linie halten können? Warum hörte man nicht Näheres über Rumänien?
Infolge neuer Maßnahmen und Befehle konnten ihm die restlichen Bücher aus dem Lazarett nicht nachgeschickt werden. Er ging mit dem Vater auf die Wiese ins Heu. Sie blendeten die politische Lage aus, gaben sich den naheliegenden Bedürfnissen hin und machten Futter für die Ziegen.
Der Sonntag begann mit einem herrlichen Morgen. Die Sonne strahlte. Um acht traf der Zug mit Edith im Hauptbahnhof ein. Helmuts Herz jubelte. Gegen Mittag gab es wieder Fliegeralarm. Welle um Welle ging über die Siedlung hinweg, Gott sei Dank. Die eine Hand als Sonnenschutz an der Stirn, Edith mit dem freien Arm umschlungen, stand er unter grünem Laub und verfolgte die feindlichen Geschwader.
Am Nachmittag hatte sich alles wieder beruhigt. Die zwei wanderten nach Schönewalde. Im Märchenwald wurde es ihm eigenartig romantisch zumute und er dachte an das Marschlied So viel Laub wie auf den Bäumen, so viel hab‘ ich mein Lieb‘ geküsst . Er tat es.
Als der Mond aufstieg, waren sie wieder zurück und saßen auf einer Bank im elterlichen Garten. Wenn sie nun Helmut besuchte, schlief Edith in seinem Zimmer und er oben im Dachstübchen, das früher der Raum seiner Schwester war.
Edith konnte auch Montag noch bleiben. Sie nahmen sich deshalb den Aufstieg zur Bischofskoppe vor. Die Sonne brannte heiß vom klaren Himmel herunter. Auf dem Gipfel des alten, markanten Grenzberges stand der steinerner Aussichtsturm aus dem Jahre achtzehnhundertachtundneunzig. Er war der älteste im Altvatergebirge mit einem wunderschönen Rundblick. Eine herrliche Fernsicht belohnte ihre Mühen. Begeistert stand Edith, die norddeutschen Tiefebene gewohnt, vor der Pracht dieser Berge und Wälder. Das Glück der beiden, ihre Eintracht schien in diesem Augenblick vollkommen und wurde durch nichts gestört. Auf dem Rückweg musste Edith barfuß gehen, denn sie hatte sich eine große Wasserblase gelaufen, nahm es aber mit kindlicher Ausgelassenheit hin.
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