"Es kann gut sein, dass ich schon Übermorgen, am Dienstag, abends fahre." Noch immer ziemlich fassungslos, betrachtete er das kleine weisse Häuschen auf dem beigelegten Bild.
"Ich freue mich auch auf das nächste Mal." Er schaute ihr tief in die Augen und es war Zeit zu gehen. Die Zeit drängte, die Arbeit liess nicht auf sich warten. Er hasste die Verspätung und Pflichtvergessenheit. Annemarie wusste um die Grenzen seiner liebevollen Zärtlichkeit, Zuneigung und Unerreichbarkeit. Obschon er ihr in liebevoller Verbundenheit sehr nahe stand, würde er sie niemals mit einem ‚ich liebe Dich‘ beschenken. Er liebte sie auf seine Weise – lustvoll, ehrlich, pflichtfrei, ungebunden. Genauso wie er sich auch mit Monika verband – unverbindlich, liebevoll aber aufrichtig und ohne das gegenseitige Versprechen einer Lebenslänglichkeit. Sie wussten beide ganz genau, worauf sie sich miteinander eingelassen hatten, in beiderseitigem Einvernehmen. Er war ein Suchender, nach Harmonie und nach der wirklichen Liebe seines Lebens. Das Schicksal einer tiefen Liebe und Verbindung, war jedoch in diesem Leben weder für die Eine noch für die Andere gegeben.
Die romantischen Stunden verflossen allmählich in der Notwendigkeit des Alltags. Die Käserei lag nicht weit entfernt von seiner Wohnung. Mit einer engen und liebevollen Umarmung endete die Leidenschaft der letzten Nacht, waren die Tassen im Geschirrspüler verschwunden, das Sakko gegriffen und die Wohnungstüre zugezogen. Spellbound, ihr Duft umgarnte seine Leidenschaft für diese wundervolle und anreizende Gespielin.
Das altvertraute Poltern und Knarren der hölzernen Treppe begleitete bereits ungezählte Male seine Schritte zur Haustür. Klingende Messingstege, arretierten den rot verzierten, sperrigen und rutschigen Läufer. Er machte sich einen Sport daraus, über den gebohnerten Holzboden hinweg zu rutschen, um mit schelmischer Freude, das Teppichstück am Ende, zurück federn zu lassen. Die Wohnungstüre der alten Nachbarin stand wie immer einen Spalt breit offen, just zu dieser Zeit in aller Frühe. Katzen gingen bei ihr ein und aus. Akribisch registrierte die Alte alle seine weiblichen Besuche. Sie wäre gerne für ihn noch einmal jung und attraktiv gewesen. Der eiserne Schlüssel in seiner Hosentasche klimperte. Mit geübtem Griff war die Zeitung aus dem Briefkasten gezogen.
Der Junimorgen war frisch, die morgendlichen Gassen der kleinen Stadt weitgehend noch menschenleer. Lieferanten verteilten ihre Waren, Kellnerinnen reinigten die Tische im Strassencafé, Kioskverkäuferinnen sortierten Zeitschriften und Ansichtskarten. Aus der Bäckerei roch es nach frischen Brötchen. In der Zeitung versunken lief er durch die Strassen.
"Guten Morgen, Leute." Der kühle Geruch von frischer Milch und reifendem Käse trat ihm entgegen. Scheppernde Milchkannen mischten sich in den hallenden Räumen mit den lauten Stimmen der feixenden Kumpel.
"Moin, Moin, Julian. Machst du jetzt voll auf den Schiffer?" Die Kollegen grienten schallend und klemmten am Bottich das Käse Tuch zwischen die Zähne. Geschwätz und Gerüchte hatten flinke Beine. Obschon seit dem Erhalt des Briefes lediglich zwei Tage lagen, war seine Erbschaft bereits in aller Munde.
"Sali Zäme. Das Buschtelephon funktioniert ja wieder bestens in Abbacella." Julian scherzte und hielt Ausschau nach seinem Vorgesetzten.
"Hast du kurz für mich Zeit, Valentin?" Er klopfte kurz an und betrat höflich das Büro. Valentin Kurmann war Mitbegründer der Käserei. Gemeinsam mit Simon Sutter, Julians Grossvater, hatte er vor über 60 Jahren das Geschäft eröffnet und nach dem Tode von Aurel Sutter, Julians Vater, den Betrieb gänzlich übernommen. Er war ein Ansässiger. Als bald 85-jähriger, seit bald zwei Jahrzehnten pensioniert und dennoch fast täglich für ein paar Stunden unermüdlich im Geschäft. Er war ein Rebell und nicht dafür geschaffen im Altersheim zu darben und bei Kaffee und Kuchen lediglich das Ende abzuwarten.
"Hoi Julian. Habe mir schon gedacht, dass du auf die grosse Reise gehst. Komm rein und setze Dich." Nach einem kurzen und unkomplizierten Gespräch mit seinem Vorgesetzten, war die Ferienzeit geregelt. Bereits in zwei Tagen konnte die Reise an die Nordsee starten. Kurmann zeigte sich kulant und Julian war zufrieden. Drei Wochen sollten fürs Erste reichen.
"Tschau zäme. Bis bald." Verabschiedungen und Händedrücken hier, Glückwünsche und Gratulationen dort. Der Werktag war lang und wie immer kräftezehrend. Er war sehr zufrieden mit seiner Arbeit. Müde spazierte er nach Feierabend in Richtung Wohnung. Menschenströme drängten durch die traditionsbewusste Stadt. Beim Sennen-Sattler herrschte Hochbetrieb. Julian grüsste kurz hinein, genoss den Geruch von Holz, Leim und Leder.
Es gefiel ihm Neues zu entdecken auf langen Autofahrten. Hauptsache der Sound stimmte und der Motor schnaubte zuverlässig unter der Haube. Das Fremde machte ihn nervös. Nicht jedoch das Unbekannte, vielmehr das unentdeckte Neuland, alle jene Dinge, die er nicht zu Gesicht bekam, ohne es zu wissen. Dennoch, Julian war kein Freund von grossen Reisen in die weite Ferne. Er schätzte Ferienreisen durch die Schweiz. Kurze Reisen führten ihn in der Vergangenheit nach Deutschland, Italien, Spanien oder Griechenland. Heimatverbunden durchwanderte er die Appenzeller Hügel, folgte den Pfaden durch die Schweizer Alpentäler oder im Gebirge. Er war kein eingefleischter Literat. Goethes ‚Erinnerung‘ hatte es ihm dennoch angetan: Willst du immer weiter schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah. Lerne nur das Glück ergreifen. Denn das Glück ist immer da.
Das Alpsteinmassiv, zwischen Kronberg und Altmann, vom Schafberg bis zur Staubernkanzel, vom Hohen Kasten zum Fälensee, Sämtisersee und Seealpsee bis Ruhesitz. Er war froh, an einem wundervollen Ort zu leben. In einer Region, in der Reisende aus der ganzen Welt, die Ruhe und Erholung suchten. Er war sich bis anhin sicher, dass sich ‚kein schöner Land‘ auf dieser weiten Erde finden liesse, als in den Tälern seiner Heimatberge. Ahnungslos darüber, dass sich in seiner diesbezüglichen Meinung in absehbarer Zeit durchaus etwas ändern würde.
Die Reiseplanung stand bevor. Für einmal mied er die abendliche Einkehr in seiner Lieblingskneipe. Die gesetzte Nachbarin notierte schmunzelnd seine Rückkehr – allein und ohne weibliche Begleitung. Sie war dafür entschuldigt, in seinen Augen freigesprochen. Im Ort kursierten die Gerüchte, sie sei in ihren wilden Jahren der fleischlichen Versuchung gern erlegen – genaues weiss man nicht.
Die Kaffeemaschine dröhnte. Mit einem schrillen Piepsen startete der Rechner. ThinkPad, mit leuchtend rotem Punkt, Mohn Blumen auf grünem Feld im Hintergrund. Der weisse Rahm verteilte sich im Kaffeeglas.
‚Weg damit‘. Er zog den Haargummi aus dem Pferdeschweif. Zusammengebunden nur bei der Arbeit, der Hygiene wegen. Wann immer möglich, trug er die Haare offen.
‚Google Maps – Routenplaner‘. Er setzte sich vor den Bildschirm, zog das schwarze Gerät heran. ‚Appenzell, Nieblum, Deutschland‘. 1051 Kilometer über A7 – 11 Std. 26 Min., warf das Gerät die Daten aus. Ein schepperndes Klingeln an der Tür. Die goldene Ziffer der Armbanduhr sprang auf 20.10 Uhr.
"Überraschung." Monika fiel ihm um den Hals.
"Ich wollte Dich nochmals sehen, bevor du fährst." Sie schmiegte sich an ihn, küsste ihn voller Leidenschaft.
"Ich fahre erst morgen Abend. Aber die Überraschung ist dir gelungen, meine Liebe." Er freute sich sehr über ihren Besuch. Giorgio Beverly Hills. Der Duft ihrer Haut war einzigartig. Blumig, in einer Mischung von Pfirsich, Aprikose, Bergamotte und Orangenblüten. Er war verzückt von ihrem Wesen, von ihrer Leidenschaft und fühlte sich bei ihr geborgen.
"Was tust du gerade?" Sie legte die Jacke beiseite, zog den Pullover aus. Ihr wohlgeformter Körper kam unter einem leichten Stoff zur Geltung. Sie wusste zu betören, ihren Liebreiz einzusetzen. Es war ihr ebenfalls ein offenes Geheimnis, dass er sie niemals mit dem Versprechen ‚Ich liebe Dich‘ auf Lebenszeit beschenken würde.
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