1 ...7 8 9 11 12 13 ...28 Das beschauliche Appenzell war seine Heimat, seit Jahrzehnten. Hier war er zuhause und verankert – eidgenössisch, heimatverbunden und den schweizerischen Traditionen verpflichtet. Alleine der blosse Gedanke, all dies hier eines Tages zu verlassen, war zeitlebens bis anhin niemals in den Raum gestellt. Es gab bis heute keinen guten Grund für einen solchen Anlass. Nichts auf dieser Erde würde ihn so sicher an sich fesseln, wie die Berge seines Heimatlandes – schon gar nicht die tosenden Fluten wilder Meere – Nordsee ist Mordsee. Die lieblichen Hügel und die Ruhe seiner Heimat hatten es ihm seit jeher angetan. Bei den Kühen und Ziegen auf den Fluren, Wiesen und Matten seiner Ahnen, auf der fruchtbaren Erde unter seinen Füssen fühlte er sich aufgehoben. Ebenso bei seinen Freunden und Bekannten, die gelegentlich in seiner Wohnung standen - denn er war eigentlich ein Käser und kein Seemann. Warum sollte er das alles aus den Händen legen, für eine Erbschaft in der Ferne?
Ein bisschen Schlaf würde wohl nicht schaden vor der grossen Fahrt. Julian schlenderte sinnierend an sein Bett.
‚Was würden wohl die verstorbenen Eltern dazu sagen? Warum haben sie von der Verwandtschaft an der Nordsee nichts gewusst, niemals auch nur ein Sterbenswörtchen davon erwähnt? War es eine tabuisierte Absicht oder effektive Ungewissheit‘. Angetrieben und reisefreudig schleuderte er seine Kleidung auf den Stuhl. Die Nordsee war ihm fremd. Sie war berüchtigt für ihr raues Klima. Für Julian kein Ort zum Leben, war er bis anhin der festen Überzeugung. NDR: Nordseereport. Von blauen Meeren, weissen Wolken, Seehunden und Wattenmeer. Die Wellen auf den Warften schlugen stürmisch bis ans Fenster, eine Rettungskammer unterm Dach als letzter Ausweg. Letztendlich blieb die Möglichkeit, das Erbe einfach zu verkaufen. Es war schon immer seine Absicht, eine eigene, kleine Spezialitätenkäserei zu gründen. Nachdenklich schloss er die Augen.
‚Smoke on the Water‘. Der schmetternde Wecker riss Julian hoch. Ein verwirrendes Läuten an der Wohnungstür raubte ihm zudem die Orientierung.
"Verdammt, was ist los?" Die Uhr zeigte kurz vor 17.00 Uhr. Er hetzte vom Sofa, schlüpfte in Rekordzeit in die Jeans, schloss die Gürtelschnalle und eilte mit blossem Oberkörper zur Tür hinunter. Allmählich ordnete er seine Sinne. Dienstag, Nachmittag, kurzer Schlaf, Abfahrt nach Dagebüll – heute Abend.
"Hallo Julian. du bist schon zuhause? Hier ist ein Brief für Dich - Eingeschrieben. Du musst mir hier den Empfang quittieren, bitte." Die Postbotin reichte ihm den Stift, schmunzelte bei seinem Anblick verlegen. Als Traummann stand er ganz oben auf der Liste ihrer Schwärmereien.
"Schon wieder?" Lächelnd nahm er den Schreiber aus ihrer Hand.
" … und wieder aus Deutschland." Sie stammelte ihn verlegen an. Aufgeregt versuchte sie ihre Bezauberung hinter Zeitungen und Briefen zu verbergen.
"Du hast Glück dass ich noch hier bin, Susanne. Ich fahre diese Nacht für zwei oder drei Wochen an die Nordsee." Sie wartete förmlich darauf, dass er noch ein paar kurze Worte mit ihr wechselte. Er tat ihr jeweils gerne den Gefallen, mit ein paar spassigen Bemerkungen. Mit einem leisen Klicken an der Wohnungstür, machte sich die alte Nachbarin bemerkbar. Just in diesem Moment sollten dringend ihre Katzen hinaus gelassen werden.
"So, so, nach Deutschland. Du hast wohl eine neue Flamme?" Die Postbotin scherzte neugierig. Wenn es etwas Neues über ihn zu wissen gab, dann wollte sie es als Erste erfahren haben.
"Nein, nein, Susanne. Wie könnte ich dir untreu werden!" Julian feixte amüsiert und setzte seinen Namen auf das kleine Display.
"Es geht wohl um eine Erbschaft, irgendwo an der Nordsee." Es war ihm sehr wohl bewusst, dass er nichts verbergen konnte in dieser kleinen Stadt.
"Das habe ich mir schon gedacht. Die Spatzen pfeifen es von allen Dächern. Appenzell ist klein. Aber von mir wird niemand etwas erfahren." Sie hielt sich schmunzelnd und mit ernster Miene die Hand vor den Mund, steckte das Gerät in die gelbe Posttasche.
"Also dann, gute Reise und viel Glück." Verzückt reichte sie ihm die Hand zum Abschied und huschte durch die Tür davon.
"Was soll das schon wieder?" Verwundert las er den Absender. Dr. Jaspers Godbersen, Hamburg. Routiniert griff er nach dem Taschenmesser, öffnete das Couvert und zog das ominöse Schreiben heraus.
‚Sehr geehrter Herr Sutter‘, las er die Anrede.
"Autsch, verdammt!" Schmerzvoll stiess er sich den kleinen Zehen an der Treppenstufe. Humpelnd las er weiter.
‚Gemäss meinen zuverlässigen Quellen, sind Sie kürzlich durch Erbschaft in den Besitz einer kleinen Liegenschaft auf der Insel Föhr am Dorfrand von Nieblum gekommen.
Es ist mir bekannt, dass Sie in der Schweiz sehr weit entfernt dieser Örtlichkeit leben. Ich gehe wohl richtig in der Annahme, dass Sie sich Gedanken darüber machen, die Liegenschaft zu veräussern. Unsere Familie ist gerne bereit Ihnen ein attraktives Angebot zur Übernahme des Hauses vorzulegen. Wir sind sicher, Ihnen damit eine Last von den Schultern zu nehmen. Bitte setzen Sie sich doch mit uns in Verbindung. Mit freundlichen Grüssen, Dr. Jaspers Godbersen.‘
"Irgendwie unglaublich. Woher hat dieser Godbersen meine Adresse?" Ratlos und befremdet schaute er auf die Zeilen. Wie war das möglich. Es waren kaum drei Tage vergangen, seit er am Samstag selber erst von der Erbschaft erfahren hatte. Laut Poststempel war der Brief am selbigen Tag in Hamburg aufgegeben worden.
"Einerseits befremdend – Okay. Andererseits ist das Angebot gar nicht so schlecht." Eben erst war ihm der Verkauf der Liegenschaft durch den Kopf gegangen. Das Geld würde wohl gut reichen für die Eröffnung einer eigenen Käserei. Der Plan war interessant. Sinnierend steckte er den Brief in seine Reisetasche. Die blaue LED an seinem Handy blinkte. ‚Lieber Julian. Werde es meinem Vater gerne ausrichten. Fahr vorsichtig. Vermisse Dich! Küsse.
Das Sterben hat immer den Tod zum Erben
Der schwarze Reiserucksack war gepackt und im Wagen verstaut. Ebenso seine Ovation Gitarre mit den brandneuen Saiten. Auf keinen Fall wollte er während der Reise auf das Instrument verzichten. Es war ihm Meditation und Ausgleich, gelegentlich darauf zu spielen und die sanften Klänge zu geniessen.
Mit dem gewohnten, smarten Trommelschlag, startete er das GPS. Das Startbild, Meer und blauer Himmel wechselte zur Karte - Deutschland, Zielort Fährhafenstr. 2, 25899 Dagebüll, Deutschland – Fahrzeit: 10 Stunden 4 Minuten, Distanz 1051 Kilometer. Aufgeregt warf Julian einen prüfenden Blick auf seine Armbanduhr. Zeitabgleich mit dem GPS; Dienstag, 10. Juni, 20.10h. Früher als geplant. Voraussichtliche Ankunft - Dagebüll 6.14h. Mit gewohntem Griff optimierte er die Sitzposition, kontrollierte die Rückspiegel und legte den Sicherheitsgurt an. Das Sakko, der Ausweis und das Handy lagen griffbereit auf dem Beifahrersitz. Bluetooth Freisprechanlage. Eine ordentliche Auswahl Musik-CDs, steckte im Ablagefach der Autotür, mehr als 300 Scheiben davon auf dem USB Stick. Die Nacht wird lang und einsam werden. Zeit genug sich Gedanken zu machen über das Leben, Freundschaften und über die Liebe, das Werden und Vergehen und darüber, wie sich das Leben von einem Tag auf den anderen Tag verändern konnte.
"Pojechali, dann gehen wir die Sache an." Juri Gagarins Startsignal hatte ihm seit jeher imponiert. Am 12. April 1961 soll der russische Kosmonaut mit diesem Wort den ersten Flug eines Menschen ins All begonnen und eine neue Perspektive begründet haben. Der Mensch entdeckte den Himmel und blickte auf die Erde. Julian fühlte sich ähnlich, in diesem Augenblick, nahm einen langen Atemzug und drehte den Zündschlüssel. Die Scheinwerfer des Wagens blendeten an der hellen Mauer. Kenwood, 2-DIN. Das blaue Display erhellte. DAB Radio, 'The Church' rockten ihr 'Under The Milky Way Tonight'.
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