1 ...8 9 10 12 13 14 ...28 "Genau das Richtige zum Start." Julian war beflügelt, folgte den schnellen Rhythmen. Position R. Umsichtig setzte er den Wagen langsam aus dem Parkfeld auf die Strasse. Das gleichmässige, leise Schnurren des Motors sowie der sanfte aber kräftige Anzug des SUV gefielen Julian bei jeder Fahrt. Seine Faszination für Autos hielt sich in Grenzen. Dennoch liess er sich durchaus begeistern von einem gewissen Fahrkomfort und technischen Annehmlichkeiten. Vor allem bei langen Autofahrten. Er schätzte die Klimaanlage im Sommer und den Allrad im Winter. Eine ordentliche Anzahl Pferde unter der Haube waren ganz in seinem Sinn. Ebenfalls die ‚freie Fahrt für freie Bürger‘ auf deutschen Autobahnen. Er plante die tausend Kilometer ohne grosse Unterbrüche in einem Aufwasch hinter sich zu bringen. Kleinere Tankstellen-Pausen waren unumgänglich. Vielleicht auf halber Strecke einen kurzen Halt von einer Viertelstunde. Empfohlene Fahrpausen aus dem GPS nicht eingerechnet. Vorsorglich hatte er zur Verbesserung der Konzentration ein reines Guaranapulver eingenommen. Dies hatte sich bereits in der Vergangenheit auf langen Fahrten stets bewährt. Eine einsame Nacht lag vor ihm, er freute sich darauf und gab Gas.
"Gleich mal was Deftiges zum Beginn der Tour." Abenteuerlustig steckte er die silberne Scheibe ‚Making Movies‘ in den Spieler. Unverkennbar rockte Dire Straits auf den Gitarren los und begleitete den Anfang seiner Reise, mit ihrem rhythmischen Sound in die hereinbrechende Nacht – Nr. 6 - ‚Solid Rock‘.
Mittlerweile wanderte an diesem kühlen Juniabend die untergehende Sonne über die Silhouette am gebirgigen Horizont. Wie ein loderndes Feuer erstrahlte sie über den sommerlichen Abendhimmel. Bald lagen die altvertrauten Dörfer seiner Heimat hinter ihm. Bei Kriessern passierte er die Grenze nach Österreich. Über die Rheintal Autobahn gewann die Reise endlich an Geschwindigkeit. Dornbirn und Bregenz, waren die Beschilderungen bald darauf an ihm vorbei gerast. Das schöne Allgäu hatte sich angekündigt – weisse Schrift auf blauem Hintergrund. Trockene Fahrbahn und ein sternenklarer Himmel versprachen Erleichterung für die bevorstehende und lange Fahrt gen Norden. Nichts hätte seine Euphorie und Abenteuerlust mehr getrübt als die Aussicht bei Regen und nasser Fahrbahn diese Reise anzutreten. Die Fahrgeräusche änderten sich mit jedem neuen Strassenbelag. Dröhnende Lastwagen schlängelten sich in Reihen über die Autobahn. Allmählich wurde die Fahrt von einer nächtlichen Monotonie erfasst. Zahllos unterquerten die weissen Mittelstreifen aus der Ferne kommend seinen Wagen, um in der Dunkelheit des Rückspiegels in die Vergangenheit zu entschwinden. Das blaue Leuchten der Armaturen schimmerte in der Finsternis. Der Motor summte leise spürbar im Hintergrund. Der Tacho zeigte konstante 160km/h. Die Sicht war klar. Die Gedanken hatten freies Spiel und nutzten die Gelegenheit zur Kreativität. Die nächtliche Fahrt erforderte höchste Konzentration. Der Gegenverkehr blendete unaufhörlich die Augen. Süsser Traubenzucker war ihm eine treue und weckende Begleitung. Ganz langsam wanderte das blaue Symbol seines Wagens über das Display an seinem GPS. Mit jedem Kilometer zählte die Digitalanzeige die Distanz der verbleibenden Strecke rückwärts. Während Stunden war das Alleinsein auf der endlosen Autobahn zu einer eindrücklichen Erfahrung geworden. Die rauschende Stille der rollenden Reifen und des leisen Motors, standen in einem permanenten Wechselspiel mit rockigen Balladen oder mit den sanften Klängen von Loreena McKennitt. Viele schöne Eindrücke erwachten bei ihrem wundervollen irisch-kanadischen Gesang. Prägende Erinnerungen an jene lieben Menschen wurden gegenwärtig, die längst verstorben waren oder die ihn zeitlebens nur für kurze Zeit begleitet hatten. Städtische Lichterketten und Verkehrsschilder zogen an ihm vorbei. Stunde um Stunde und Minute um Minute veränderten sich die Werte auf der Tankanzeige. Kaum hatte die Benzinanzeige die 200 Kilometermarke erreicht, wurde die nächste Möglichkeit genutzt um aufzutanken. Ebenfalls eine gute Möglichkeit sich jeweils kurz die Beine zu vertreten. Memmingen, Rothenburg ob der Tauber, Würzburg. Kassel, Göttingen, Hannover und noch immer monotone 150 lange Kilometer bis nach Hamburg. Das nächtliche Treiben auf den Rastplätzen stimmte ihn nachdenklich. Fernfahrerromantik wie sie wirklich ist. Kaum zuhause verbrachten die Fahrer ihre Nächte in den Kabinen ihrer PS trotzenden Kolosse - auf Rastplätzen oder ständig in Bewegung und fern ab ihrer Lieben. In den Ohren das rhythmische Dröhnen der unweit dahin rasenden Autos oder die beständig aufblitzenden Scheinwerfer an der Kabinenwand vor Augen.
Bereits hatte er an Tankstellen drei kurze Pausen hinter sich gebracht. Allmählich erhellte sich in der Ferne der wolkenverhangene Horizont mit einem sanften Schimmer. Hamburg, in grossen weissen Lettern auf blauem Untergrund und in zweistelliger Kilometerzahl. Im Radio donnerten Bono und Mike Jagger ihr Duett in den noch jungen Morgen, 'Gimme Shelter'. Seine Finger tanzten am Steuer zu den mitreissenden Rhythmen dieser einzigartigen Hymne an seine eigene revolutionäre Jugendzeit. Wie oft hatte er mit Annemarie diese fünf Minuten unbeschreiblicher Freiheit und Ausgelassenheit genossen.
Freie Fahrt durch den Elbtunnel. 3325Meter modernste Baukunst der Verkehrstechnik. Noch einmal weitere 190 Kilometer oder 2 Stunden und 27 Minuten bis zum Ziel - Dagebüll. Im Anschluss U2 und Bruce Springsteen - I Still Haven't Found What I'm Looking for. Mit feuchten Augen der Lebensfreude und der Euphorie für den unbeschreiblich befreienden Sound, fuhr Julian die Lautstärke hoch. Es konnte gegenwärtig keinen besseren Augenblick geben in seinem Leben.
Die morgendliche Sonne stand noch tief am Horizont. Bereits erstrahlte sie in ihrem schönsten Licht. Endlich hatte er die Nacht hinter sich gelassen und steuerte unablässig der neuen Welt entgegen. Die Gegend wurde flacher. Endlos frass sich die Autobahn durch die Landschaft. Unablässig zählte das GPS die Kilometer zurück. Noch immer im dreistelligen Bereich. Zumindest mit einer Eins als erste Ziffer. Weit und breit war kein einziger Hügel mehr zu sehen. Nicht die kleinste Erhebung. Der Gegenverkehr wurde merklich spärlicher. Seit Hamburg war wieder einige Zeit vergangen. Norddeutsche Sender gaben sich im Radio die Klinke in die Hand. Für 4 Minuten und 57 Sekunden, setzte sich Amanda Marshall mit ihrem melodiösen I'll be okay neben ihn. Fasziniert von diesem wundervollen Anblick einer ungewohnten Ausdehnung und Weite fuhr er unbeirrt dem unbekannten Ziel entgegen. Gigantische Propeller von zahlreichen Windturbinen säumten unerwartet den weiten Horizont. Reihenweise drehten sich die weissen Wunderwerke in den Wind. Bunte Büsche und Sträucher säumten die Autobahn. Entgegen aller anfänglichen Bedenken, waren die nächtlichen und einsamen Stunden problemlos überwunden - fast schon unbemerkt an ihm vorbei geflogen. Hauptsache der Sound war in Ordnung, der Autositz bequem und der Wagen zuverlässig. Die Landschaft flog vorbei, 160 km/h - permanent - 'freie Fahrt für freie Bürger'. Die nächtliche Fahrt war eine eindrückliche philosophische Erfahrung. Mit wachem Bewusstsein während Stunden auf den Schwingen des zeitlichen Werdens und Vergehens dahin zu schweben, waren ihm an diesem Morgen eine unbeschreibliche und befreiende Entdeckung. Gleichsam einem gefühlten Sprung durch Raum und Zeit. Das leise Summen des Motors lag unaufhörlich und seit Stunden in seinen Ohren. Einzig unterbrochen vom Geräusch des Fahrtwindes und dem wechselnden Dröhnen der Reifen auf dem Asphalt. Längst hatte er die Müdigkeit erfolgreich besiegt. Allmählich machten sich der Hunger und der Durst bemerkbar. Die kleine Raststätte mit Tankstelle kam wie gerufen.
"Aha, eine Schweizer Maestro Karte!" Die Verkäuferin lächelte.
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