"Moin. Was darf es denn sein, der Herr?" Unerwartet wurde er plötzlich von einer freundlichen Stimme aus der Konzentration gerissen.
"Ja, Guten Morgen. Eigentlich bin ich im Moment etwas überrumpelt." Verlegen suchte er nach einer Ausrede.
"Klingt alles sehr interessant. Wenn man weiss, was es ist. Was können Sie mir denn empfehlen?" Nicht minder entgeistert mussten sich wohl jene Touristen fühlen in Appenzell, wenn sie, angereist aus der ganzen Welt, mit den einheimischen Traditionen und Bräuchen konfrontiert würden. Sein ratloser Blick muss Bände gesprochen haben.
"Sie sind das erste Mal an der Nordsee?" Sie lächelte verständnisvoll, mitfühlend.
"Sozusagen ja. Aber ich hoffe doch, nicht das letzte Mal." Charmant flirtete er die attraktive Kellnerin an.
"Dann würde ich Ihnen Labskaus vorschlagen. Da ist von allem etwas drauf und schmeckt ausgezeichnet." Sie blieb freundliche resistent. Offensichtlich war sie es gewohnt, von den männlichen Gästen mit Komplimenten eingedeckt zu werden. Ihr Lächeln wurde trockener und ihre Bewegungen schneller.
"Das klingt gut – danke. Dann nehme ich das." Er legte die Speisekarte zurück.
"… und ein alkoholfreies Bier, bitte."
"Sehr gerne." Sie schnappte sich die Mappe, notierte fast schon nebensächlich seinen Wunsch und eilte wieder davon. Angetan blickte er ihr nach. Sie hatte eine schöne, weibliche Figur. Die längeren Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Julian war kein Kostverächter. Bei allem Respekt und gebührender Distanz genoss er den Anblick von schönen und attraktiven Frauen, sofern sie eine gewisse Natürlichkeit verkörperten und nicht übermässig künstlich aufgeplustert waren. Obschon selber durchaus ein stattliches Mannsbild, muskulös und kräftig, waren ihm männliche Kameradschaften suspekt. Er war kein Freund von Stammtischrunden, Fussball oder Bodybuilding Kulten. Männliches Konkurrenzgebaren oder hormongesteuerte Hahnenkämpfe verabscheute er wie der Teufel das Weihwasser. Seit jeher fühlte er sich von der Aura weiblicher Gesellschaft eher angezogen als von den rauen Umgangsformen seiner männlichen Zeitgenossen. Zu seinem Erstaunen entfernte sich das Schiff von der Insel Föhr. Gemächlich zog diese am Schiff vorbei.
‚Was macht der Kahn, warum fährt der nicht in diese Richtung? Beunruhigt schaute er auf die Positionstafel. Tatsächlich wanderte der kleine Punkt an der Insel vorbei.
"Scheisse, bin ich überhaupt auf dem richtigen Schiff? Erschrocken durchfuhr ihn ein unangenehmes Gefühl.
"Einmal Bier und den Labskaus." Mit geübtem Handgriff stellte die Kellnerin lächelnd seine Bestellung auf den Tisch. Zweifellos hatte sie seine bewundernden Blicke bemerkt und fühlte sich sichtlich geschmeichelt.
"Entschuldigung. Darf ich Sie kurz etwas fragen?" Einerseits war ihm die Frage peinlich, andererseits genoss er den Bonus des unwissenden Touristen.
"Ja sicher." Geduldig blieb sie neben ihm stehen.
"Das ist doch die Fähre nach Wyk auf Föhr? Ich habe den Eindruck, dass wir uns von der Insel entfernen."
"Das ist die Fähre nach Wyk. Keine Panik." Die junge Kellnerin lächelte verständnisvoll.
"Wir können Wyk nicht auf dem direkten Weg ansteuern. Die Nordsee ist hier stellenweise nur ein paar Meter tief. Die Fahrrinne macht hier einen weiten Bogen. So ist das hier im Norden. Das Meer ändert sich ständig."
"Das war mir nicht bewusst, leuchtet aber ein, wenn Sie das so erklären. Besten Dank." Verlegen griff er nach dem Portemonnaie, bezahlte die Bestellung und griff nach dem Besteck. Interessiert musterte er die farbigen Speisen auf dem Teller.
"Du bist also ein Labskaus." Scherzend steckte er die Gabel in den mit Randen durchsetzten kartoffelstockähnlichen Brei. Zwei Spiegeleier verbreiteten einen vertrauten Duft vermischten sich mit dem Aroma von zusammengerollten Heringen. Etwas Salat und mehrere in Streifen geschnittene Essiggurken rundeten das Menü ab.
"Also fein schmeckt das Ganze, das muss man zugeben." Genüsslich schob er eine weitere Portion in den Mund und blickte zufrieden in die Ferne auf die unbekannte Insel.
"Ich bin wirklich gespannt, was mich dort erwartet." Nachdenklich nahm er einen Schluck von dem kühlen Bier und beobachtete das rege Treiben der wenigen Passagiere. Kleine Kinder spielten miteinander oder quengelten beim Essen. Es wurden Fotos geschossen, lachend diskutiert und Prospekte studiert. Mütter tauschten am Nebentisch ihre Erfahrungen.
"Noch knapp 20 Minuten." Julian warf einen Blick auf seine Uhr. Die Zeit schien zu rasen. Gemächlich fuhr die Fähre nun direkt in Richtung Insel. Nachdenklich hatte sich Julian zurück gelehnt und liess seine Blicke über die weiten Wasser schweifen. Lloyd Cole liess ihn mit seinem 'Like Lovers do' in den Ohren in der fernen Vergangenheit schwelgen. Erinnerungen an liebe Menschen wurden wach. Das Gesicht einer längst vergangenen Liebe, wunderbare Tage seiner wilden Jugend. Wie hatte sich doch das Leben geändert. Spurlos waren die wilden Jahre an ihm vorbei gezogen. Wie viele gebrochenen Herzen hatte er zurück gelassen, um dennoch zuversichtlich auf jene grosse Liebe zu warten, die eines Tages auf dem Sterbebett seine alte Hand halten werde. 'Sitting down here', holte ihn Lene Marlin mit ihrer sanften Stimme und den melodiösen Klängen zurück in die Realität.
Die Insel kam näher. Ihre Bausünden, der 1970er Jahre Hochhauskultur, war bereits weithin zu erkennen. Ebenso das blaue Anlegertor am Hafen, welches er lediglich aus dem Internet kannte. Gemächlich dümpelte die Fähre durch das ruhige Wasser der Nordsee. In aller Ruhe strömten die Passagiere allmählich zu den Treppen und Ausgängen des Schiffes. Einmal mehr staunte Julian darüber, mit welcher Entschleunigung hier alles vonstatten lief. In einer langen Kurve steuerte die Fähre kurz darauf in den Hafen von Wyk. Schäumend wurde das Wasser am Bug der Fähre aufgewühlt. Langsam näherte sie sich dem Anleger.
‚Willkommen auf Föhr‘ in grossen weissen Lettern auf blauem Hintergrund. Julian hatte endlich sein Ziel erreicht.
Wer Gehen lernt und fällt, hat auch die Zeit um wieder aufzustehen.
In ihrer beeindruckenden Weite und dem offenen Horizont lag sie zu seinen Füssen. Eine unbekannte Inselwelt der Nordsee - Föhr.
"Dieses Land ist eigentlich unglaublich gross. Ich bin hier an der Nordsee. Trotzdem noch immer in Deutschland", dachte er im Rückblick auf seine zehnstündige nächtliche Fahrt. Er griff nach seinem Gepäck und der Gitarre.
"Diese Weite hier oben ist unvorstellbar und beeindruckend." Im Vergleich mit seiner schweizerischen Heimat, Appenzell und dessen enge Täler war er sich diese Weiträumigkeit nicht gewohnt. Ein eigenartiges und ungewohntes Gefühl der Freiheit strömte erneut durch seinen Körper. Weisse Wolken zogen über die Insel. Die Passagiere verliessen in einem offenen Menschenstrom die Fähre. Es herrschte keinerlei Gedränge. Die bunten Häuserzeilen zogen die Aufmerksamkeit von Julian in ihren Bann. Zufrieden mischte er sich in den Menschenstrom und marschierte in Richtung Ausgang.
Unweit entfernt lagen einige Krabbenkutter, auf denen die Fischer mit ihren Netzen beschäftigt waren. In einiger Entfernung staunte Julian über ein marginales weisses Häuschen. ‚Krabben und Fisch‘, stand auf einer kleinen Tafel. Ein alter Seebär aus Holz und Kunststoff, hielt die Tafel mit dem aktuellen Angebot in seiner Hand.
‚Hartelk welkimen üüb Feer! FÖHR – grüne Insel weisser Strand,. Ein Schild begrüsste die Ankommenden. Die grosse Uhr darüber zeigte 8.30h. Unweit stolzierte in Hafennähe ein weisser Storch entlang der Uferpromenade. Fasziniert von den Eindrücken dieser bis anhin fremden Welt, spazierte Julian gelassen durch das Fluttor in Richtung Altstadt. Das Geschrei der Möwen und Seevögel begleitete jeden seiner Schritte. An der Hafen Apotheke vorbei, schlendert er durch die Königstrasse und bis zur Grosse Strasse. Zahlreiche Menschen flanierten in den Gassen der Backsteinhäuser. Beeindruckt von den schmucken kleinen Häuschen und ihren farbenprächtigen Blumenbögen schlenderte Julian weiter. Der Mittwoch war noch jung und bis zum Treffen mit der Anwältin Behlendörp hatte er noch genügend Zeit. Am Ende der Gasse zog in einiger Entfernung ein hoher backsteinerner Uhrentum Julians Aufmerksamkeit in seinen Bann.
Читать дальше