"Die Reise war etwas anstrengend. Zehn Stunden Autobahn sind nicht der Brüller. Meinen Wagen habe ich in Dagebüll im Parkcenter stehen gelassen. Offenbar bin ich bereits ganz in Ihrer Nähe im Gasthaus Zorbas."
"Beim Zorbas? Das ist ja ganz hervorragend. Dann könnten wir uns eigentlich gleich treffen, wenn das für Sie in Ordnung ist. Ich habe Ihnen übrigens in Nieblum schon mal eine nette Unterkunft gebucht. Da brauchen Sie sich nicht mehr zu kümmern."
"Das ist aber nett von Ihnen, Frau Behlendörp." Das Angebot war Okay. Diesbezüglich war er aber wählerisch. Er hasste zweckmässige Absteigen. Drei Sterne mussten mindestens gegeben sein.
"Haben Sie denn schon gefrühstückt?"
"Bis jetzt nur einen Kaffee. Auf dem Schiff habe ich Labskaus kennen gelernt. Das reicht mir vollkommen. Wenn es Ihnen recht ist, dann komme ich doch gleich einmal in Ihrer Kanzlei vorbei und wir sehen dann weiter." Keine Zeit verlieren. Falls sich das alles doch noch als Bauernfängerei erweisen sollte, wollte er so schnell wie möglich wieder die Kurve kratzen können. Zuhause warteten zwei wundervolle Ladys.
"Wie Sie möchten, Herr Sutter. Ich kann mich richten. Sie haben die Adresse?"
"Nicht nur die Adresse." Julian schmunzelte.
"Die Kellnerin hat mir auch bereits das Haus gezeigt."
"Aha, das kann ich mir bei Lennja gut vorstellen. Ich hoffe sie war etwas zurückhaltend. Sie kann sich manchmal nur schwer bremsen in ihrer Neugier." Die Anwältin feixte.
"Das liegt wohl in unserer Familie."
"Ach, Sie sind verwandt?"
"Sie ist eine meiner Cousinen - aber eine von den Lieben." Behlendörp lachte laut.
"Ich verstehe schon, was Sie meinen." Julian wunderte sich über ihren Humor. Sie wirkte nicht wie eine steife Geschäftsfrau. Obschon es sich um ein anspruchsvolles Treffen handelte und immerhin eine Erbschaft verhandelt wurde, schien sie ihm von einer beeindruckenden und humorvollen Gelassenheit zu sein.
"Dann kann ich Sie also in der nächsten halben Stunde erwarten, Herr Sutter?" Er schätzte diesen Satz.
"Ich muss hier noch schnell bezahlen und werde dann nächstens bei Ihnen aufkreuzen."
"Das freut mich. Dann also bis gleich."
"Also dann, bis gleich, Frau Behlendörp." Mit einer freundlichen Geste winkte er der Kellnerin. Diese unterhielt sich beim Eingang mit einem Kellner. Offensichtlich versuchte sie etwas verlegen ein Gemunkel über Julian zu verbergen. Mit dem Lächeln des Ertappten und den kleinen Notizblock fest umklammert, schritt sie heran.
"Sie möchten bezahlen?"
"Ja, Gerne."
"Haben Sie Frau Behlendörp erreicht?" Offensichtlich war ihre Frage eher ein Akt der Freundlichkeit.
"Ja, Es ist alles bestens. Danke nochmals für Ihren Hinweis. Ich werde sie gleich treffen." Julian legte das Geld auf den Tisch und griff nach seinem Gepäck. Er war grosszügig und liess ihr ein ordentliches Trinkgeld liegen.
"Besten Dank und auf Wiedersehen." Geschäftig eilte die Kellnerin davon. Gebannt verharrte sein Blick am Eingang des gegenüberliegenden Geschäfts. Die unbekannte Schönheit trat plötzlich aus der Tür. Mit schnellen Schritten und graziösen Bewegungen lief sie zu ihrem Fahrrad. Mit schnellen Handgriffen verstaute sie ihre Sachen an der Lenkstange in einem Korb. Julian war hingerissen von ihrer anmutigen Weiblichkeit. Das Gefühl unbeschreiblicher Zuneigung flutete alle seine Sinne. Sie war einer jener Menschen, bei dessen Begegnung sich Welten verbanden und der Wunsch nach einer kurzen Umarmung in seinem Herzen wuchs. Das Geheimnis dieser magischen Momente war ihm zeitlebens ein Rätsel. Unauffällig trat Julian auf die Strasse. Wie gerne hätte er jetzt einfach nur für einen kurzen Augenblick ihre zarte Hand berührt. Sie war noch immer mit ihrem Rad beschäftigt, hantierte an ihrer Tasche. Einmal in seinem Leben wollte er diesem faszinierenden Wesen in die Augen schauen. Ein kurzer Blick für alle Ewigkeit. Beiläufig schritt er in ihre Nähe, markierte den behäbigen Touristen und beäugte die angebotene Ware. Der organisierte Zufall war perfekt. Unsinnige Blicke auf seine Uhr, orientierende Pseudo-Umsicht durch die Gassen, simuliertes Warten, nur um etwas Zeit für sie zu schinden. Und plötzlich war er da. Jener bezaubernde Moment eines zufälligen Gegenüberstehens. Der ersehnte Anblick ihrer Augen, ihres zauberhaften Lächelns.
"Moin!" Sie stieg auf das Fahrrad, strich ihre Haare unter die Mütze, würdigte ihn eines kurzen Blickes und fuhr langsam an ihm vorbei.
‚Wow!‘ Der Boden unter seinen Füssen und die Welt um ihn herum verschwand.
"Hallo." Ein lächerliches Hallo. Mehr war ihm nicht eingefallen. Er sah sich im Boden versinken. Die Ewigkeit war nicht mehr aufzuhalten. Mit jedem Tritt in die Pedale entfernte sie sich aus seinem Leben in die vergängliche Unendlichkeit. Sekunden später entschwand sie hinter einer Biegung aus seinen Augen. Ein Summen in seiner Sakkotasche. Gespannt schaute er auf das Display, las seine eigene Nachricht. "Meine liebe Annemarie, bin soeben in Dagebüll am Hafen ..." und im Anschluss ihre Antwort.
"Das Bild ist lustig, mein Lieber. Wäre gerne dabei. Schicke dir eine feste Umarmung." Plötzlich flammten sie wieder auf, jene Gewissensbisse gegenüber den beiden Frauen. Sehr wohl waren sie ihm mehr verbunden, als er dies je zu geben im Stande war. Dennoch vermochte er den letzten Schritt der bindenden Verpflichtung nicht zu überwinden, weder für die Eine noch für die Andere. Obschon er ihnen in liebevoller Verbundenheit sehr nahe stand, würde er sie niemals mit einem gefühlvollen ‚ich liebe Dich‘ beschenken können. Er liebte sie beide auf seine Weise – lustvoll, ehrlich, pflichtfrei, unverbindlich, liebevoll aber aufrichtig und ohne das gegenseitige Versprechen einer Lebenslänglichkeit. Sie wussten worauf sie sich miteinander eingelassen hatten, in beiderseitigem Einvernehmen. Vielleicht würde er ihr niemals begegnen, der Liebe seines Lebens. Das hübsche Angesicht der unbekannten Schönen, hatte sich tief in seinem Bewusstsein eingebrannt. Schwärmend lief er auf der rötlich-grauen Plattenstrasse, hinauf zum Glockenturm. Eine rote Fahne flatterte im Wind. Interessiert las Julian am Turm die Inschrift-Tafel. 'Zur Erinnerung an den Abstimmungstag 14.März 1920'.
"Was auch immer abgestimmt wurde?!" Beeindruckt von dem imposanten Gebäude und seiner Geschichte ging er weiter. Aufmerksam hielt er Ausschau nach der gesuchten Hausnummer. ‚Anwaltskanzlei Svenja Behlendörp - Beratung und Vertretung im gesamten Erbrecht. Nachlassplanung, Testament, Erbvertrag, Erbteilung, Willensvollstreckung‘. Unverkennbar leuchtete ihm das silberglänzende Schild entgegen.
"Unglaublich!" Wieder einmal wurde ihm die Tragweite dieser aussergewöhnlichen Situation bewusst. Vor einer knappen Woche war kaum mit einer Veränderung zu rechnen in seinem Leben. Mit dem Eintreffen des ominösen Briefes, verlief plötzlich nichts mehr wie gewohnt. Er stand tatsächlich auf einer bis anhin gänzlich unbekannten Insel in der Nordsee, vor dem pompösen Schild einer Kanzlei. Der Onkel aus Amerika war in Erscheinung getreten, mit dem Erbe einer Liegenschaft und mit einem Namen, den er in seinem Leben weder jemals gehört und von dessen Existenz er nicht die geringste Ahnung hatte. Gespannt drückte Julian die Klingel, betrachtete im dunklen Glas sein Spiegelbild. Zweifellos konnte er eine gewisse Aufregung und Neugier nicht verbergen. Er, der es schätzte stets alles im Griff zu haben, so schnell die Ruhe nicht zu verlieren. Das war durchaus eine euphorische Grenzerfahrung. Mit einem leisen Klicken öffnete sich die massive Tür. Auf glühenden Kohlen betrat er das Foyer. Verwundert stand er plötzlich in einer weiten, offenen und Licht durchfluteten Halle. Von aussen schien das Gebäude wesentlich kleiner. Eine indirekte und hellblaue Beleuchtung schimmerte in einem Halbkreis von der Decke. Sie legte den leuchtend weissen Raum in eine angenehme und beruhigende Atmosphäre. In dem hellbraun glänzenden Marmorboden spiegelte sich die Umgebung. Das Deckenlicht schien daraus hervor zu steigen. Eine weit geschwungene, mit Stuckaturen, goldenem Geländer und Seefahrer Motiven, reich verzierte Treppe, bildete den Mittelpunkt der Halle. Julian fühlte sich wie auf der Jugendstil Kommandobrücke eines Hochseedampfers. Mit einem freundlichen Lächeln schritt die Anwältin anmutig die Treppe herunter. In ihrem dunkelroten, eng anliegenden und knielangen Kleid, mit schwarzem und knapp geschnittenem Oberteil, erschien sie ihm wie eine Diva aus einem alten Film mit Humphrey Bogart. Die schwarzen Haare waren zu einem Zopf geflochten. Sie glänzten mit den weissen Perlohrringen um die Wette in dem hellen Licht. Eine reich verzierte Vase mit chinesischen Motiven stand unterhalb der glanzpolierten Treppe. Das Blaue Licht spiegelte sich in den goldenen Rändern.
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