"Ihre Vorsicht ist durchaus verständlich, Herr Sutter. Ich kann Ihnen aber leider die gewünschte Auskunft nur erteilen, wenn ich meinerseits ein paar persönliche Daten überprüft habe. Datenschutz - Sie verstehen?" Sie schlug ihn mit seinen eigenen Waffen. Der Zug war zu ihren Gunsten verlaufen, hatte jedoch zu einer Patt-Situation geführt. Zwei sich umkreisende Hähne waren sich begegnet.
"Wir können auch gerne einen Termin vereinbaren in unserem Büro in Wyk. Ich verstehe, wenn Sie am Telephon keine Auskunft geben möchten." Sie war eine Geschäftsfrau und die Nordsee nicht gerade ein Katzensprung entfernt von der Schweiz.
"Okay, ich habe verstanden. Das leuchtet mir ein." Umgehend entschloss sich Julian zu persönlichen Kompromissen. Die Vor- und Nachteile wurden abgewogen. Die Angelegenheit hatte offensichtlich Hand und Fuss. Ihre Vorsicht und die Überprüfung seiner Daten war verständlich. Im Falle eines Betruges oder einer anderweitigen Schindluderei hatte er ja bereits die Telephonnummer, eine Adresse und einen Namen. Sogar Frau Flor, vom Einwohnermeldeamt hatte ihn an diese Adresse verwiesen. Allmählich begannen seine Zweifel und sein Misstrauen zu verschwinden.
"Also, mein Geburtsdatum ist der 13. Februar 1982, reicht Ihnen das?"
"Ihren Wohnsitz müssten Sie mir bitte noch bestätigen…!"
"Ich wohne an der Hauptgasse in Appenzell, in der Schweiz."
"Darf ich Sie noch um die Namen Ihrer Eltern bitten, Herr Sutter."
"Meiner Eltern? Theoretisch ja."
"Ja, bitte die Namen der Eltern", doppelte sie freundlich nach.
"Okay. Mein Vater hiess Aurel und meine Mutter war Lucia Sutter. Sie sind aber beide längst verstorben."
"Besten Dank für die Angaben, Herr Sutter. Sie stimmen mit meinen Unterlagen überein. Ich kann Ihnen daher zumindest bestätigen, dass es sich nicht um einen Irrtum handelt." Die Anwältin fuhr weiter im Gespräch.
"Gemäss Erbrecht unseres Landes, sind Sie tatsächlich erbberechtigt. Erklären Sie sich grundsätzlich bereit, die Erbschaft in Form der Liegenschaft des Erblassers, Mangens Jansen in Nieblum anzutreten. Wir haben Ihnen ja bereits ein Bild des Hauses beigelegt." Behlendörp kam gleich zur Sache. Julian fühlte sich überrumpelt. Die Erbschaft war das Eine, die Annahme derselben das Andere. Er war kein Geschäftsmann, hatte weder Schulden noch ein grosses Vermögen. Eine Zusage am Telephon konnte durchaus gefährlich werden, wenn er dadurch einen Schuldenhaufen übernehmen würde. Ohne die Hilfe einer Fachperson wollte er keine Zusage leisten.
"Ehrlich gesagt kommt das ganze sehr überraschend für mich. Ich bin etwas überrumpelt und kann das Ganze aus der Distanz noch nicht richtig abschätzen. Ich müsste eigentlich mehr über die ganzen Umstände erfahren. Ich kann nicht einfach unterschreiben für etwas das ich nicht kenne."
"Das kann ich gut nachvollziehen, Herr Sutter. Das spricht für Sie. Eine solche Erbschaft erhält man auch nicht jeden Tag." Sie zeigte durchaus Verständnis.
"Ich weiss überhaupt nicht, in welcher Erbschaftslinie ich zu diesem Erbe komme. Es war mir nicht bewusst, dass unsere Familie in Nieblum an der Nordsee eine Verwandtschaft hat. Meine Familie ist seit Generationen hier in Appenzell in der Schweiz zuhause."
"So ist das Leben, Herr Sutter. Es geht oft seltsame Wege. Das erleben wir bei Erbschaftsangelegenheiten immer wieder." Die Anwältin wurde plötzlich erstaunlich persönlich. Die Strenge und Geschäftigkeit verlor sich in ihrer Stimme.
"Gemäss unseren Nachforschungen über ihre Familie, sind Sie gegenwärtig tatsächlich die einzig, erbberechtigte, noch lebende Person, Herr Sutter."
"Das heisst, Sie haben so etwas wie eine Chronik unserer Familie vorliegen?" Julian staunte. Nicht einmal in seiner Familie war ein schriftlicher Stammbaum vorhanden. Zumindest hatte er noch niemals einen solchen gesehen.
"Unsere zuständigen Mitarbeiter haben eine äusserst genaue Ahnenreihe erstellt auf der ihre Erbberechtigung klar ersichtlich ist. Als Kanzlei sind wir natürlich auf klare Fakten angewiesen. Wir dürfen uns diesbezüglich keine Fehler leisten."
"Interessant. Einen Familienstammbaum gibt es in unserer Familie nicht. Das hat meine Eltern nie interessiert. Vielleicht wurde auch einfach etwas tot geschwiegen." Zum ersten Mal in seinem Leben wurde Julian mit Unklarheiten oder einer Nachlässigkeit in seiner Familie konfrontiert. Niemals zuvor hatte er einen Gedanken dafür aufgewendet, dass es auch in seiner eigenen Familie dunkle und unbekannte Flecken gab. Vor allem die Ahnenreihe seiner Mutter war niemals thematisiert worden.
"Was denken Sie wie oft in Erbschaftsangelegenheiten plötzlich alte Familiengeheimnisse zu Tage kommen, Herr Sutter" Dieser Satz traf ihn wie ein Pfeil in die Brust.
"Das könnte auch bei uns der Fall sein." Julian wurde nachdenklich.
"Meine Eltern waren sehr verschwiegen. Bis heute wäre mir aber nicht in den Sinn gekommen, das mit einem alten Familiengeheimnis oder dergleichen in Verbindung zu bringen."
"Das ist natürlich nur eine von vielen Möglichkeiten, Herr Sutter." Vorsichtig versuchte Behlendörp zu relativieren. Sehr wohl hatte sie die plötzliche Betroffenheit von Julian bemerkt. Es lag nicht in ihrer Absicht schlafende Hunde zu wecken.
"Es bedeutet nicht, das dies in ihrer Familie der Fall war. Ich denke, dass sollten Sie zuerst klären, bevor Sie in dieser Richtung falschen Annahmen verfallen. In Ihrem speziellen Fall sehe ich einfach eine verloren gegangene Verwandtschaftslinie." Sie verstand es zu beruhigen.
"Da haben Sie natürlich Recht. Bevor das nicht alles geklärt ist, sollte ich mich auch nicht vorurteilig in etwas hinein steigern. Dennoch steht natürlich diese doch etwas mysteriöse Erbschaft im Raum."
"Ihre verstorbene Mutter, Lucia Sutter war eine geborene Löfstedt." Zu seiner Überraschung nahm sich die Anwältin Zeit, um sich intensiv mit ihm über seine Familie zu unterhalten.
"Das stimmt. Wie ich Ihnen gesagt habe. Die Eltern meiner Mutter waren Sönk und Anna Löfstedt. Soviel ist mir noch bekannt von meinen Grosseltern mütterlicherseits." Mittlerweile hatte er Vertrauen zu der Unbekannten gewonnen. Etwas in ihrer Stimme hatte ihn beeindruckt. Es müsste wohl mit dem Teufel zugehen, wenn ihn diese Person zu hintergehen versuchte.
"Ich habe meine Grosseltern mütterlicherseits kaum gekannt. Ist es möglich, dass sie mir darüber am Telephon eine kurze Auskunft geben oder mir die Chronik per E-Mail zukommen lassen?" Plötzlich fand er sich in einer Geschichte, die ihn bis anhin nicht wirklich interessierte. Wehmütig stellte er fest, dass er diesbezüglich einiges verpasst oder unterlassen hatte. Seine Mutter war längst verstorben, ebenso sein Vater.
"Das ist nicht ganz einfach, Herr Sutter", wurde sie wieder merklich zurückhaltender.
"Aus Gründen des Datenschutzes, darf ich Ihnen die Liste eigentlich nur persönlich überreichen. Ich bin sicher, Sie verstehen das." Es blieb ihm nichts anderes übrig.
"Ihre persönliche Anwesenheit ist daher dringend notwendig - früher oder später." Sie fand wieder zurück in das geschäftliche Fahrwasser.
"Es gibt natürlich hier vor Ort einige administrative Angelegenheiten zu erledigen. Darf ich Sie daher bitten, dass Sie in nächster Zeit in unserer Kanzlei hier auf Föhr vorbei kommen. Es wäre auch eine gute Gelegenheit, Sie persönlich kennen zu lernen und Ihnen das Objekt zu zeigen." Es wurde ernst. Die Reise an die Nordsee war so gut wie unumgänglich geworden.
"Das dachte ich mir." Julian versuchte die möglichen Termine in seinem Kopf zu ordnen.
"Es wird sich einrichten lassen, Frau Behlendörp." Im Grunde genommen hatte er keine besondere Mühe, sich auf Unvorhergesehenes einzustellen. Seit dem Brief haben sich aber die Ereignisse aber etwas überschlagen. Bis vor drei Tagen wäre es ihm nicht im Traum in den Sinn gekommen, einfach mal schnell 1100 Kilometer an die Nordsee zu reisen.
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