"Wow! Sieht so aus, als hätte sich dieser Mangens Jansen eine kleine Münzensammlung angelegt. Die müssten heute einen ganz beträchtlichen Wert haben." Julian schmunzelte über seinen interessanten Fund. Münzen hatte er noch nie gesammelt. Zumindest liessen sich diese womöglich gut verkaufen. Er fühlte sich ertappt. Überwältigt von der eigenen Habgier. Kaum war dieser Mangens Jansen unter der Erde, kreisten seine eigenen raffgierigen Gedanken wie hungrige Geier über dessen Erbe. Irgendwie fühlte er sich plötzlich wie an einer Leichenfledderei, pietätlos gegenüber dem unbekannten Erblasser. All diese Dinge waren ihm von diesem anvertraut worden. Sie waren Teil der Lebensgeschichte eines ehrwürdigen Menschen. Kurz darauf hatte er die verschiedensten Gegenstände neben dem Koffer ausgelegt. Gespannt griff er nach dem letzten Objekt und nahm es vorsichtig heraus. Eingewickelt in einem dicken, seidenen Tuch, entdeckte er ein Buch mit ledernem Einband. Es war ziemlich abgegriffen und vom Zahn der Zeit sichtlich gezeichnet. Schwerlich vermochte Julian auf dem abgenutzten Einband den matten Schriftzug 'Lady Lovibond' sowie die Jahreszahl 1748 zu entziffern.
"Ein altes Logbuch." Julian war begeistert. Auf dem vorderen Deckel glänzte eine Messingschnalle. Ein ledernes Band war als Verschluss mehrmals geschickt um das Buch gewickelt. Aufgeregt öffnete er das imposante Werk. Seit jeher hatten Bücher auf ihn eine gewisse Faszination. Eine Vielzahl von handschriftlichen Zahlen und Tabellen offenbarten sich seinen neugierigen Blicken. Ehrfürchtig blätterte er durch die Seiten. Die zahlreichen Einträge waren in englischer Sprache verfasst. Trotz seiner guten Sprachkenntnisse, war es ihm nicht möglich, die alte Handschrift zu lesen. Fasziniert blätterte er bis zur hintersten Seite. Ein loser und vergilbter Zettel fiel unter dem Buchdeckel hervor auf den Boden. Wissbegierig hob er ihn auf. Die Schrift unterschied sich merklich von den Einträgen des restlichen Buches. Das Datum 20. April 1835 war klar und deutlich zu erkennen. In mehreren Reihen folgten geheimnisvolle Zahlen; 1.1 / 1.11 / 2.10 / 10.52 / 2.35 / 1.5 / 2.35 / 2.35 / 1.11 / 1.35 / 1.5 / 2.2 / 2.2 / 1.11 / 4.19 / 3.25 / 2.33 / 2.46 / 1.11 / 7.18 / 10.2 / 10.1 / 3.16 / 1.5 / 1.11 / 10.2 / 1.1 / 1.11 / 2.10 / 3.16 / 1.5 / 10.18 / 2.10 / 1.11 / 10.2 / 20.2 / 10.2 / 1.11 / 2.10. Julian rätselte, war gleichsam fasziniert von diesem Mysterium.
"Was sollen diese Zahlen? Ich habe keinen blassen Schimmer!" Aufmerksam und gedankenversunken versuchte er sich aus den Zeichen einen Reim zu machen.
"Ich habe keine Ahnung, was das soll." Ratlos studierte er das Papier in seinen Fingern.
"Jansen war ein Seemann. Gut möglich, dass es sich um irgendwelche Navigationsdaten aus dem Logbuch handelt." Resigniert versuchte er auf die mysteriöse Entdeckung eine Erklärung zu finden. Ohne fremde Hilfe würde er wohl gegenwärtig keine Antwort finden. Das war ein guter Grund Ingken Olufsen um Rat zu fragen. Mit Sicherheit war sie mit den Gegebenheiten der Seefahrt eher vertraut als er. Vielleicht wusste sie etwas mit diesen Zahlen anzufangen. Er freute sich einen guten Grund für das nächsten Treffen zu haben, faltete das Papier zusammen und steckte es in die Sakkotasche. Respektvoll verstaute er die Sachen wieder zurück in den Koffer und stellte ihn neben der Vitrine im Wohnzimmer auf den Boden.
Mittlerweile war es kurz vor Mittag geworden. Seit seiner Ankunft am frühen Morgen war bereits so vieles geschehen. Die administrativen Angelegenheiten mit Behlendörp waren geregelt, das Haus bezogen und Ingken Olufsen hatte ihm den ominösen Koffer vorbei gebracht. Die anfängliche Müdigkeit machte sich wieder bemerkbar. Allmählich begann ihm das Gehirn kleinere Streiche zu spielen - Sekundenschlaf.
"Verdammt, die SMS!" Mit dem Fund des Schlüssels hatte er es bis jetzt verpasst sein Handy auf irgendwelche Nachrichten zu prüfen. Einmal mehr kam das schlechte Gewissen. Umgehend warf er einen Blick auf das bunte Display - keine neuen Nachrichten. Julian war beruhigt, stellte den Wecker, um sich eine Stunde aufs Ohr zu legen. Das alte, weiche Sofa war ideal. Es hatte die richtige Länge und die beiden Armlehnen waren eine perfekte Kopfstütze. Erschöpft legte er sich hin und schaute zur Decke. Aus seinem Handy donnerten RUSH mit ihrer ‚Time Machine‘ durch Zeit und Raum. Mit ihrem 'The Big Money' verliess auch Julian den Boden der Realität und begann zu träumen.
Seemöwen schreiten in der Ferne und wurden lauter und lauter, mischten sich mit der Brandung des Meeres. Julian strich über die Taste am Display. Der Wecker verstummte. Der kurze Schlaf hatte Wunder bewirkt. Er setzte sich auf, massierte sein Gesicht, streckte seine verspannten Glieder, trat hinaus in die Küche, hielt ein Glas unter den Wasserhahn und nahm einen kräftigen Schluck des klaren Goldes. Er liebte die belebende Kraft des klaren Wassers. Die Sonne stand hoch über den Bäumen. Der Himmel war klar und wolkenlos. Kurz nach 13.00 Uhr. Zufrieden setzte er sich auf die hölzerne Sitzbank vor dem Haus und liess sich von der Sonne das Gesicht wärmen. Noch immer strich der Wind um das Haus, wehte durch die Büsche und Sträucher. Blumen und Gräser tanzten ihren Reigen. Blätter wurden davon getragen und die Äste in den Bäumen wippten hin und her. Krähen kreisten aufgeregt am Himmel und hüpften über den Hof. Auf der Playlist in seinem Handy waren Rush mittlerweile mit ihrem 'Natural Science' ebenfalls ganz leise an der Nordsee angekommen. Julian genoss das Zusammenspiel ihrer rockigen Klänge und der gegenwärtigen Freiheit seines kleinen Abenteuers. Das Haus bot noch viele Geheimnisse, die es zu ergründen gab. Die Neugier trieb Julian an.
Erwartungsvoll drückte er den Deckel zum Dachboden nach oben. Wärme schlug ihm entgegen. Vorsichtig stieg er über die Treppe hinauf und blickte sich um.
"Dachböden sind vielversprechende Schatzkammern." Gespannt betrat er den Raum und ging umher. Staub bedeckte den Boden, wirbelte umher. Auf einem schiefen Gestell lagen in drei Reihen uralte und abgegriffene Bücher. Eine dicke Staubschicht lag auf den Folianten. Robinson Crusoe, Offterdinger & Zweigle. Fasziniert begann Julian in den Werken zu blättern und ihre Titel zu lesen. ‚Vom Weltfrieden bis zur französischen Revolution‘, Karl Goedeke 1880, ‚Die Mordkapelle auf dem hohen Felsen am Vierwaldstättersee‘. Heidelberg 1830. Staunend stellte er die Werke zurück. Lesestoff für später. Eine geöffnete und leere Seemannskiste verstaubte inmitten des Raumes. Ein hölzerner Tisch und mehrere Stühle waren in einer Ecke aufeinander gestapelt. Ein heller Sonnenstrahl bohrte sich durch einen Spalt auf den hölzernen Boden. Die Bodenriemen unter Julians Schuhen knarrten mit jedem einzelnen Schritt. Eine aufgescheuchte Katze hetzte mit einem lauten Schrei an ihm vorbei und flüchtete durch eine enge Öffnung unter dem Dach hinaus ins Freie.
"Scheiss Vieh." Erschrocken fuhr Julian zusammen, fühlte sich wie in einem Film von Alfred Hitchcock. Der Wind pfiff mit eigenartigen Geräuschen durch das Reetdach und durch die Spalten und Ritzen. Das alte Gebälk knarrte. Ein mulmiges Gefühl war nicht zu bestreiten. Abgesehen von den Büchern, der Seemannskiste, dem Tisch und den Stühlen war der Dachboden weitgehend leer. Langsam trat er zurück auf die Treppe, klopfte den Staub von seinem Ärmel, schloss vorsichtig über sich den Deckel und ging hinunter ins Erdgeschoss.
Gespannt öffnete Julian die Tür und schritt in den Durchgang zu der angebauten Scheune.
"Ein Knebelscheisshaus. Ich glaub‘s nicht!" Beruhigt inspizierte er die Toilette. Ein Badezimmer hatte das alte Haus nicht zu bieten. Zumindest dieser alte Abort würde ihm das Minimum an notwendigstem Komfort bieten. Zu seinem Erstaunen stand er plötzlich in einer sehr ordentlich aufgeräumten und übersichtlichen kleinen Werkstatt. Prägende Erinnerungen an seine eigene Kindheit erwachten. In seinem Bewusstsein reihten sich zahlreiche Bilder aneinander. Die Schaukel in der Werkstatt des längst verstorbenen Grossvaters. Die kindlichen Gefühle der Freude und Ausgelassenheit jener jungen Jahre waren plötzlich wieder allgegenwärtig. Mittlerweile war er selber zu einem Mann von fast 40 Jahren herangewachsen. Die Wände des Raumes waren rundum weiss gestrichen. Grosse Fenster ermöglichten ein helles Arbeiten. Zu seiner Linken stand eine alte Hobelbank. Unmittelbar daneben eine dunkle Werkbank mit einem mächtigen Schraubstock. Zahlreiche, gut gepflegte Werkzeuge aller Art hingen ordentlich aufgereiht an den Wänden. Schraubenzieher und Zangen, Gartengeräte und Gabelschlüssel aller Grössen waren vorhanden. Eine einfache elektrische Lampe hing von der Decke. Das Kabel war sichtlich provisorisch verlegt. Auf einer Werkbank stand zu seiner Überraschung ein altes Fahrrad. Es wartete förmlich darauf, von ihm in Besitz genommen zu werden. Auf den ersten Blick war es in bestem Zustand. Julian war begeistert.
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