"Das klingt ja richtig geheimnisvoll. Aber warum einem vertrauensvollen? Bin ich doch nicht der Einzige zur Auswahl oder gab es auch irgendwelche trügerische?" Julian schmunzelte.
"Ach, entschuldige. Das war nicht so gemeint" Sie lachte.
"Das war von mir nur so daher geredet." Sie rang sichtlich nach einer Entschuldigung. Offensichtlich versteckte sich hinter ihrer Antwort mehr als sie zu sagen gewillt war. Julian spürte ihre Zurückhaltung, vermied es aber sie diesbezüglich weiter zu bedrängen. Es würde sich sicherlich eine passende Gelegenheit ergeben.
"Dann will ich Dich jetzt nicht länger davon abhalten, das Haus zu erkunden. Du bist übrigens jederzeit herzlich willkommen bei uns drüben, lässt dir meine Grossmutter ausrichten. Lass uns wissen, wenn wir dir behilflich sein können."
"Das ist nett von euch - danke. Ich werde gerne auf das Angebot zurückkommen, sobald ich hier etwas Fuss gefasst und mir einen fahrbaren Untersatz besorgt habe." Mit schnellen Schritten ging sie zu ihrem Fahrrad, warf sich den Schal um den Hals.
"Tu das! Sieh mal in den kleinen Schuppen. Also dann, bis bald. Schön Dich kennen zu lernen." Mit einem sportlichen Sprung schwang sie sich auf das Fahrrad und fuhr winkend davon. Fasziniert schaute er ihr hinterher. Die braunen Haare wehten unter ihrer Mütze. Hinter den Bäumen an der Einfahrt war sie schnell aus seinem Blickfeld verschwunden. Auf der Wiese gegenüber flüchteten die blökenden Schafe davon. Mit einem sonderbaren Wohlgefühl und pochendem Herz über diese unerwartete Begegnung ging er zurück ins Haus. Diese Frau war einzigartig. Ihr Wesen und ihre Art hatten ihn sonderbar berührt. In ihrer Stimme lag die Anmut der nordischen Rauheit und war dennoch von einer unbeschreiblich weiblichen Sanftheit, wie er sie niemals zuvor gehört hatte. Ihre breiten Backenknochen verliehen dem Gesicht die Anmut von Stärke und Zartheit und ihre stechenden und dunklen Augen durchbohrten sein Herz wie die Pfeile Amors.
"Bei aller Selbstbestimmung. Manchmal muss man das Leben einfach spielen lassen." Es konnte nicht besser gehen. Kaum auf der Insel angekommen, hatte sich alles bereits in sehr positiver Form entwickelt. Zufrieden ging er zurück ins Haus, schloss hinter sich die Tür und betrat die Küche. Geheimnisvoll stand der Koffer auf dem Boden. Er packte das schwere Stück und trug es hinüber ins Wohnzimmer. Aufmerksam betrachtete er ihn von allen Seiten, suchte nach irgendwelchen Inschriften oder ungewöhnlichen Hinweisen, die ihm in irgend einer Form nützlich sein konnten. Das Mystische und Mysteriöse hatte von ihm Besitz ergriffen und drängte danach entdeckt zu werden. Der Lederkasten war nicht besonders gross. Offensichtlich aber von beträchtlichem Alter. An den Ecken und Kanten waren hölzerne Leisten zur Verstärkung angebracht. Mächtige Scharniere zierten den Boden und den Deckel. Ein schweres Schloss hielt zwei massive Metallbügel zusammen. Aufgeregt hantierte er daran herum.
"Es ist wohl nicht so einfach, dich zu knacken." Nachdenklich strich er sich übers Kinn, suchte angestrengt nach einer Lösung. Er hatte nicht die Absicht dieses Objekt seiner Begierde einfach zu zerstören und aufzubrechen. Es musste einen vernünftigen Weg geben, den ledernen und abgegriffenen Koffer unbeschädigt zu öffnen.
"Irgendwie ist der Gedanke verrückt. Sie sagte, dass der Koffer niemals zuvor geöffnet und nur dem Erben übergeben werden durfte. Dieser Mangens Jansen hat mich doch überhaupt nicht gekannt. Warum macht er dann ein Geheimnis aus einem Koffer?" Ein Hilfsmittel musste her. Aufmerksam begann er das Haus nach irgendwelchen brauchbaren Werkzeugen zu durchsuchen, durchkämmte die wenigen Räume. Es liess sich nichts Brauchbares finden. Im Haus lag eine eigenartige Stille. Julian war mit sich selbst und mit seinen Gedanken alleine. Gedankenversunken untersuchte er alte Kästen und Kommoden, Schubladen und Fächer. Mittlerweile schien sich einiges geklärt zu haben. Dennoch blieben noch immer einige Fragen und Reaktionen offen. Zeitlebens war er wachen Bewusstseins und offenen Sinnes durch das Leben gegangen, war sensitiv geblieben und hatte ein gutes Gespür für die Verhaltensweisen der Menschen entwickelt. Entgegen aller Beschwichtigungen lag noch immer etwas ungeklärtes in der Luft. Die eigenartige Reaktion der Beamtin auf dem Einwohnermeldeamt verharrte noch immer in seinem Hinterkopf. Die Bemerkung der Kellnerin in Wyk war auch nicht einfach aus der Luft gegriffen und sicherlich mehr als nur ein versehentliches Verplappern. In jedem Scherz steckt eine kleine Wahrheit. Die Wahrheit. Da war sie wieder und gierte nach Grossvaters Weisheiten. In jeder Wahrheit findet sich ein kleiner Fehler, in jedem kleinen Fehler eine grosse Wahrheit. Behlendörp vermochte bei ihm jegliche Zweifel diplomatisch und professionell aus dem Weg zu räumen. Mit derselben Sicherheit hatte sie ihm jedoch die Antworten auf ungestellte Fragen vorenthalten. Unerwartet fiel ihm das Gepäck ins Blickfeld.
"Vielleicht gibt’s eine neue Nachricht von Zuhause?" Zu seiner eigenen Schande hatte er seit ungewohnt längerer Zeit seine SMS nicht mehr überprüft. Möglicherweise warteten Annemarie und Monika längst auf ein Lebenszeichen. Mit schlechtem Gewissen griff er eiligst nach dem braunen Sakko. Ein leises metallisches Klirren aus der Seitentasche.
"Verdammt, das ist es. Die Behlendörp hat mir doch einen alten, gusseisernen Schlüssel in die Hand gedrückt." Euphorisch über seine Entdeckung wühlte er in seine Tasche, zog das Metall hervor und eilte erwartungsvoll zum Koffer.
"Scheisse, der Schlüssel passt." Aufgeregt steckte er das Metall in die Öffnung, drehte ihn einmal um. Klickend sprang der Bügel aus dem Schloss.
"Schon wieder! Warum wusste die Behlendörp nicht, dass der Schlüssel zu dem Koffer gehört?" Verdutzt zog Julian das Vorhängeschloss aus den metallenen Bügeln und legte es neben den Kasten. Gespannt öffnete er den Deckel. In diesem Moment fühlte er sich wie Jim Hawkins aus dem Roman 'Die Schatzinsel' von dem schottischen Schriftsteller Robert Louis Balfour Stevenson. Er hatte das Buch in seiner Kindheit förmlich verschlungen. Nun sass er selbst vor einer Schatztruhe mit unbekanntem Inhalt. Mit einem sanften Quietschen lag der Koffer offen vor seinen Augen. Ein eigenartiger und fremder Geruch breitete sich aus. Wider Erwarten roch es jedoch weder nach vermodertem Altertum noch nach schimmeliger Feuchtigkeit. Es duftete vielmehr angenehm nach getrocknetem Lavendel und feinen, fremdländischen Gewürzen. Neugierig schaute er hinein. Vorsichtig zog er an einem schützenden Seidentuch, das die Gegenstände bedeckte und nahm es beiseite. Offensichtlich war das der Koffer eines Seemanns. Fremdartige, antiquarische Gerätschaften und Instrumente waren ordentlich eingeräumt. Darunter ein kleiner Chronometer und ein bronzefarbener Sextant. Interessiert las Julian die Inschrift. 1810. Fa. Breithaupt, Cassel. Daneben war der Name 'Mangens Jansen' eingraviert. Julian war von seiner Entdeckung fasziniert. Vorsichtig entnahm er einen Zirkel, einen Kompass, verschiedene Lineale sowie mehrere Winkel. Ebenso waren in einer metallenen Schatulle verschiedene Karten, mehrere Messer, diverse Schreibutensilien sowie eine Halskette mit einem Anker versorgt. Sehr genau merkte er sich die Anordnung der Gegenstände im Koffer. Sorgsam eingewickelt in einem Segeltuch kamen eine uralte Petroleumlampe, ein Fernrohr, eine Seemannsmütze sowie ein eigenartiges Feuerzeug mit dem Schriftzug 'Döbereiner' zum Vorschein. Kunstvoll mit einem geflochtenen Band zusammengebunden lag zwischen den Gegenständen ein kleiner Lavendelstrauss. Ein brauner und weicher Lederbeutel duftete angenehm nach Tabak. In einem grösseren Beutel klimperten deutsche Taler und Groschen. Staunend liess er sie in die Hand fallen. Verblüfft las er deren Prägungen. '16 gute Groschen 1834, 2/3 Thaler 1832 sowie ‚Einen Thaler‘ 1827.
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