"Ich denke, Sie können die Reservierung rückgängig machen, Frau Behlendörp. Ich bleibe definitiv hier." Entschlossen stellte er das Gepäck und seine Gitarre neben dem Eingang auf einen Stuhl.
"Sie sind aber wirklich schnell entschlossen, Herr Sutter. Das obere Stockwerk haben Sie ja noch gar nicht besichtigt."
"Mir reicht das, was ich gesehen habe. Es ist doch richtig gemütlich hier. Ich hätte ehrlich gesagt Schlimmeres erwartet."
"Das freut mich sehr. Dann lasse ich Sie jetzt alleine mit ihrem neuen Haus. Der Rest liegt jetzt an Ihnen." Sie reichte ihm die Hand, hielt ihm ihre Visitenkarte zu. Ihre wuchtigen Fingerringe dominierten den Händedruck.
"Hier ist meine Handy-Nummer. Rufen Sie mich einfach an, wenn Sie noch irgendwelche formelle Fragen zur Erbschaft haben. Ansonsten wünsche ich Ihnen eine angenehme und erholsame Zeit auf Föhr." Sie ging zur Haustüre.
"Besten Dank für Ihre Hilfe, Frau Behlendörp. Es war schon sie kennen gelernt zu haben." Sie war ihm durchaus sympathisch geworden, hatte in seinen Augen die Aura der kühlen Geschäftsfrau verloren.
"Ich lasse jetzt einfach mal alles auf mich zukommen. Zumindest bin ich jetzt mal drei Wochen hier. Es wird sich zeigen, was ich alles erledigen kann. Jetzt werde ich wohl erst einmal in aller Ruhe die Insel erkundigen."
"Ach ja, bevor ich es vergessen. Ich werde Familie Olufsen über Ihre Ankunft orientieren. Ist das für Sie in Ordnung?"
"Auf jeden Fall. Besten Dank."
"Also dann, machen Sie es gut, Herr Sutter. Es war mir ebenfalls eine Freude, Sie kennen zu lernen. Und geniessen Sie unsere Insel." Mit elegantem Schritt verschwand sie durch die Tür.
"Ach ja, Entschuldigung." Sie schaute durch den Türspalt.
"Falls Sie tatsächlich verkaufen, melden Sie sich doch bitte bei mir."
"Auf jeden Fall, Frau Behlendörp. Ein guter Grund Sie wieder zu sehen." Einen kurzen Flirt zum Abschied konnte er sich nicht entgehen lassen. Sie schaute lächelnd zu Boden, drehte sich um und entschwand aus seinen Augen.
'Offensichtlich bin ich in einer völlig anderen Welt gelandet'. Ergriffen von seiner eigenen Familiengeschichte betrat er ehrfurchtsvoll die gemütliche Friesenstube. Überwältigt von den Geschehen und den neuen Eindrücke der letzten Tage, setzte er sich auf ein bordeauxrotes Sofa. Es war weich wie moosiger Waldboden und sog ihn förmlich in sich hinein. Der Stoff fühlte sich an wie Samt. Farbenprächtige Pfauen zierten die Armlehnen.
"Ich glaub‘s nicht!." Eine uralte Schweizer Fahne hing über dem Sofa an der Wand. Das leuchtend klare Rot war bereits matt und glanzlos zu einem vergilbten Braun geworden, das Weiss des Kreuzes zu einem verschmierten Gelb. Der Stoff war brüchig und ausgefranst. Durch das Fenster knirschte der Kies unter Autoreifen. Mit einem leisen Brummen des Motors fuhr die Anwältin langsam durch die schmale Ausfahrt. Seine Blicke folgten durch das verzogene Glas dem glänzenden Wagen. Gleichsam einer Reise durch die Zeit, schweiften seine aufmerksamen Augen durch das Wohnzimmer. Ein mehrarmiger und kunstvoll verzierter Messingleuchter hing inmitten des Zimmers über einem währschaften Holztisch mit weisser Tischdecke. Es waren keine elektrische Kabel zu sehen. Beim Eingang fehlten die üblichen Lichtschalter. Fünf hellbraune Stühle mit weichen Sitzpolstern und geschwungenen Armlehnen umrahmten ihn. Über dem Ofen leuchteten mehrere blaue Kacheln mit kunstvollen Blumenmustern. Zwischen zwei Fenstern stand eine hölzerne Vitrine. Verschiedene Gegenstände aus der Seefahrt waren darin ausgestellt. Das von Hand gemalte Bild eines älteren Seemanns mit braunem Umhang, einer typischen Regenmütze und einem blauen Hemd, hing dicht daneben an der Wand. Es war mittlerweile etwas in Schieflage geraten. Der weisse Bart und das von Arbeit, Wind und Wetter gegerbte Gesicht, verlieh dem pfeifenrauchenden und alten Seebär eine eindrückliche Anmut. Auf einer dunklen Kommode mit mehreren Schubladen standen silberne Töpfe und altertümliche Gefässe. Auf dem dunklen Holzboden glänzten die abgetretenen und polierten Holzriemen. Die hölzerne Decke wurde von zwei mächtigen Balken getragen. Ein eigentümlicher Geruch von Lavendel und altem Holz lag in der Luft.
"Wer mögen sie wohl gewesen sein? Wer waren jene Menschen, die hier während Jahrzehnten gelebt haben? Menschen, denen er zeitlebens niemals begegnet war und mit denen er dennoch in einer bis anhin unbekannten familiären Verbindungen stand. Tatsächlich befand er sich an einem Ort, aus dem ein Teil seiner Familie hervorgegangen war und dem auch er in gewisser Weise seine Existenz verdankte. In welcher Form und Konstellation auch immer. Nachdenklich erhob er sich aus dem weichen Sofa - es quietschte und knarrte unter seinem Gewicht. Neugierig trat er hinaus auf den Flur, stiess vorsichtig an die Tür zur Küche. Ein bescheidener und einfacher Holztisch in der Mitte. Rote quadratische Steinplatten bedeckten den Boden. Längst hatten sie ihren Glanz verloren, waren matt und von endlosen Schritten ausgetreten. Spalten und Risse bildeten seltsame Musterungen. Ein schöner Geschirrkasten mit einer offenen Ablagefläche befand sich an der Wand. Drei einfache Stühle mit einer aus Stoff bezogenen Rückenlehne mit Blumenmustern umkreisten den Tisch. Mehrere weisse Porzellanteller und sechs Tassen waren darauf säuberlich geordnet. Ein weisser Holzherd mit glänzenden und metallenen Rändern, eingebaut an einer eingeschwärzten Seitenwand. Umsichtig musterte Julian das Inventar. Er suchte aufmerksam nach Geschirr, Pfannen und Besteck. Zu seinem Erstaunen war alles Nötige vorhanden und fein säuberlich in den Schubladen geordnet. Alles schien erst kürzlich gereinigt worden zu sein. Gerade so, als ob das Haus bis vor kurzem noch bewohnt war. Eigentlich hatte er es versäumt, Behlendörp nach dem Todestag von Mangens Jansen zu fragen. Es soll mindestens ein Jahr gedauert haben, bis er als rechtmässiger Erbe festgestellt wurde. Diese Familie Olufsen musste sich also während mindestens einem Jahr intensiv um das Haus gekümmert haben. Es lag kein Stäubchen herum und selbst die vorhandenen Gläser glänzten, als ob sie erst kürzlich hierher gestellt worden waren. Es gab einen guten Grund ihnen dafür seinen Dank auszusprechen. Staunend ging er auf den Flur. Das alte Parkett unter seinen Füssen knarrte. Vorsichtig trat er auf die schiefe Treppe und ging langsam hinauf in die obere Etage. Jede einzelne der Stufen ächzte unter seinen Schritten. Bilder von Segelschiffen und blühenden Wiesen zierten die Wände. Spielende Kinder auf Leinwand und Holz mitunter seit Jahrhunderten in Farbe festgehalten. Schiffe kämpften sich in schönen Rahmen durch die Wellen stürmischer Meere. Riesige Mehrmaster, kleine Segler und Seemänner in Wetterbekleidung waren abgebildet. Neugierig und gespannt schritt er durch einen engen Flur und in einen weiteren Raum. In einer Ecke stand ein grosses und gusseisernes Doppelbett, wie man es von Photographien aus alten Zeiten kannte. Unter einer breiten Fensterbank lag ein abgegriffener Seemannskoffer auf dem dunkelroten Bretterboden. Zwei Nachttische säumten zu beiden Seiten die Bettstatt. Zu seinem Erstaunen stand auf einem der beiden eine unzeitgemässe, elektrische Lampe mit stoffbezogenem Schirm. Die Frage nach einem Stromanschluss hatte er sich bis anhin gar nicht gestellt. Tatsächlich hatte er einen solchen bis anhin nicht bezweifelt. Eigentlich bis jetzt aber keine deutlichen Hinweise darauf gesehen. Dieses Defizit schreckte ihn auf. Vielleicht hätte er mit seinem Entschluss das Zimmer in der Pension zu stornieren doch besser etwas zuwarten sollen. Bei aller Bescheidenheit. Kein fliessend warmes Wasser war durchaus kein Problem. Die Sommer auf den Schweizer Alpen boten ihm selten diesen Komfort. Hauptsache ein Brunnen vor der Hütte. Dennoch war er ein Kind der modernen Zivilisation. Kein elektrischer Strom würde daher selbst seine Bescheidenheit auf eine grosse Probe stellen. Handy, Musik - nichts ging ohne diese neuzeitliche Magie. Die roten Holzriemen knarrten bei jedem seiner Schritte. Mehrere schmale und farbenprächtige Läufer lagen am Boden. Die Bettwäsche war offensichtlich frisch und von einem leuchtenden Weiss. Gerade so, als ob auch sie erst kürzlich erneuert worden wäre.
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