"Föhr ist nicht sehr gross. Unsere Insel ist knapp 12 Kilometer lang und etwa 8 Kilometer breit." Zufrieden begann sie sich als Reiseleiterin.
"Unsere höchste Erhebung mit 13 Metern ist Geest. Das liegt zwischen Nieblum und Midlum. Da sind Sie in der Schweiz wohl etwas anderes gewohnt." Sie lachte verschmitzt über diese Situationskomik und griff nach einer Broschüre.
"Das ist unser offizieller Inselführer. Sie werden ihn sicher gebrauchen können."
"Besten Dank, das werde ich sicher." Interessiert nahm er die Broschüre entgegen, steckte sie in seine Tasche.
"Also wenn ich ehrlich bin, dann klingen für mich als Schweizer 13 Meter wie ein Scherz." Er hatte fast schon ein schlechtes Gewissen über diese Bemerkung. Sie war leider eine Tatsache. Irgendwie verspürte er ein schmerzliches Mitgefühl für die Bewohner dieser Insel. Ihre Begeisterung für diese Meter vermochte er nicht zu teilen. Für sie waren aber 13 Meter tatsächlich verdammt hoch. Eine rettende Höhe bei Fluten und Sturm.
"Verstehen Sie das bitte nicht falsch, Frau Behlendörp. Wir haben 48 Viertausender in der Schweiz. Man kann das wahrscheinlich nicht vergleichen. Hier sind 13 Meter sicherlich extrem hoch. Dafür ist bei uns alles sehr eng." Er versuchte die Sache diplomatisch zu regeln.
"Wow, das wusste ich nicht. 48 Viertausender. Das ist wirklich erstaunlich." Sie startete den Motor und fuhr aus der Parklücke.
"Am besten, Sie fahren von hier auf die L214." Sie lenkte den Wagen auf die Strasse.
"Auf unserer Insel sieht alles etwas grösser aus als es ist. Mit dem Wetter haben wir heute Glück. Fast Wolkenlos!" Sie blickte sich um – freie Fahrt.
"Föhr ist wie gesagt nicht sehr gross. Mit dem Wagen können Sie eigentlich jeden Ort sehr schnell erreichen. Es fährt auch ein Inselbus." Sie begann mit einer kurzen aber schwärmerischen Erklärung.
"Wir haben zwölf Dörfer." Sekunden später bremste sie an einer Strassenkreuzung.
"Am besten Sie mieten sich die nächsten Tage ein Fahrrad und erkunden die Umgebung. Ich glaube es gibt etwa 14 Fahrradvermietungen." Aufmerksam wartete sie auf das grüne Licht der Ampel.
"An dieser Kreuzung fahren Sie einfach geradeaus weiter. Eigentlich kann man sich auf der Insel überhaupt nicht verfahren. Egal wo Sie landen. Irgendwann kommen Sie wieder zurück nach Wyk." Sie schmunzelte schelmisch, gab Gas und überquerte die Strassenkreuzung.
"Hier ist bereits die Stadtgrenze." Kaum war eine Minute seit der Kreuzung im Ort vergangen, zeigte sie auf die offenen Felder.
"Es scheint viel Landwirtschaft zu geben."
"Das ist so Herr Sutter. Föhr ist seit jeher eine sehr fruchtbare Bauerninsel. Es existieren noch ungefähr 75 Vollerwerbsbetriebe, mit durchschnittlich 70 Hektar Land. Von den 6200 Hektar unserer Insel, werden 1500 als Ackerland und etwa 4700 als Grünland für Weiden verwendet."
"Da spricht aber die Expertin - wow. Ich staune." Interessiert schweiften seine Augen durch die Landschaft.
"Das täuscht! So unglaublich es klingt, aber es leben tatsächlich etwa 11.000 Rinder auf der Insel."
"Unglaublich. Ich gebe zu, dass ich Föhr etwas unterschätzt habe. Meine Informationen und Bilder sind lediglich aus dem Internet."
"Das da vorne ist bereits Nieblum. Kurz vor dem Dorfeingang beginnt die Jens-Jacob-Eschels Strasse. Das ist sozusagen die Hauptstrasse von Nieblum."
"Jacob Eschels? Irgendwo habe ich den Namen schon mal gehört oder gelesen."
"Das ist gut möglich." Sie schaute ihn von der Seite an, lächelte.
"Eschels wurde 1757 in Nieblum geboren. Er ist so eine Art Inselberühmtheit, ging als Walfänger zur See und wurde Kapitän. Berühmt wurde er eigentlich erst durch seine Memoiren, 'Lebensbeschreibungen eines alten Seemanns', die er Mitte des 19.Jahrhunderts für seine Kinder und Enkel hinterlassen hat." Allmählich kam die Ortschaft näher.
"Sein Geburtshaus steht übrigens noch immer in Nieblum, direkt neben dem Friesendom, bzw. der St. Johannis Kirche. Es ist in Privatbesitz und leider nicht öffentlich zugänglich."
"Wahrscheinlich habe ich darüber im Internet gelesen. Ich erinnere mich an die Geschichte. Die Seefahrt und die Nordsee waren ehrlich gesagt bis anhin für mich kaum ein Thema." Dieses Defizit war ihm jetzt fast schon etwas peinlich. Wer hätte gedacht, dass dies in seinem Leben von so grosser Wichtigkeit werden sollte.
"Wir sind gleich da." Sie verwies ihn auf das Strassenschild; Nieblum, Kreis: Nordfriesland.
"Ab hier beginnt die Pflastersteinstrasse durch den Ort. Am besten prägen Sie sich von hier an den Weg ein, Herr Sutter. Es ist aber eigentlich ganz einfach." Sie bremste und folgte langsam dem Strassenverlauf. Interessiert bestaunte Julian die schmucken Backsteinhäuser. Vereinzelt waren sie mit Reetdächern gedeckt. Klappernd machte sich das Kopfsteinpflaster unter den Reifen bemerkbar. Gemächlich steuerte Behlendörp durch die enge Dorfstrasse. Café Kohstall, Altes Friesisches Teehaus, Café Cappuccino, Frischemarkt Hückstädt, Restaurant zum Schlachter. Aufmerksam merkte er sich die Gebäude, versuchte sich die Namen einzuprägen auf der von Bäumen gesäumten Durchgangsstrasse.
"Beim Restaurant Lohdeel, dort vorne geht es links ab." Sie bog in die schmale Strasse. Heidweg, las Julian auf einem grünen Strassenschild.
"Natürlich gibt es auch einen anderen Weg zum Haus. Dort hinten über die Rundföhrstrasse, den Uasteraanjstich und über den Zwischenweg." Sie zeigte zwischen die Häuser.
Ich bin mir sicher, Sie werden das im Laufe der Zeit alles selber herausfinden, wenn Sie sich etwas mehr auskennen auf der Insel."
"Ein netter kleiner Weiher. Ein schönes Bild mit den weissen Strandkörben auf der Wiese dort drüben." Julian versuchte sich den Weg einzuprägen.
"Wow - aber endlos viel Federvieh."
"Wir nennen die Ecke ‚an der Meere." Sie steuerte das Fahrzeug auf der schmalen Strasse vorbei an kleinen Häuserzeilen. Das Buschwerk wurde dichter und führte durch einen kleinen Wald.
"Café Osterheide, klingt nett." Julian studierte bei der kurzen Vorbeifahrt die Menü Tafel.
"Ich habe Ihnen hier vorsorglich ein Zimmer reserviert. Falls Sie es denn wirklich brauchen."
"Danke. Ich werde mich dann entscheiden wenn wir dort sind. Ist es eigentlich noch weit?" Offensichtlich war der Dorfrand erreicht. Die letzten Häuser lagen hinter ihnen und die Fahrt ging wieder auf das offene Feld hinaus in Richtung Meer.
"Nein, wir sind gleich da. Das Haus liegt zwischen Goting Kliff und Nieblum. Wenn Sie von hier aus rechts in Richtung des Wäldchens blicken, können Sie es vielleicht schon erkennen. Es liegt etwas verborgen. Zumindest das Dach ragt aus den Bäumen." Sie verlangsamte die Fahrt und zeigte in die genannte Richtung.
"Ach ja? Ich bin wirklich gespannt. Ehrlich gesagt kann ich nichts erkennen." Aufmerksam schweiften seine Blicke in die Ferne. Abgesehen von den vielen Bäumen sah er kein Haus.
"Ich lasse mich überraschen."
"Es liegt tatsächlich etwas verborgen zwischen den Bäumen dort drüben. Aber wir sind sowieso gleich da." Sie gab wieder etwas Gas.
"Da vorne links bei der Lichtung steht das Nieblumer Leuchtfeuer." Erneut verlangsamte sie kurz die Fahrt.
"Interessant. Abgesehen natürlich auf Bildern habe ich noch nie einen echten Leuchtturm gesehen. Eine Freundin aus der Schweiz hat mir kürzlich die Funktionsweise mit den Lichtintervallen erklärt. Das ist ja wirklich hoch interessant." Julian bestaunte das kleine abgezäunte Gebäude mit dem Leuchtfeuer. Tatsächlich durchfuhren ihn bei dem Anblick seltsame Gefühle. Das war kein gewöhnliches Bauwerk. Für die Seefahrt waren sie von unbeschreiblich wichtiger Bedeutung. Unglaublich was dieses unscheinbare Gebäude hinter dem Zaun für eine Aufgabe hatte. Schiffen die Position zu melden und sie vor den Gefahren des Meeres zu warnen oder den sicheren Weg zu weisen. Umgehend erinnerte ihn der Turm an die alten Seefahrerfilme in denen sie an stürmischen Küsten Rettung brachten.
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