"Ich meinte natürlich, im Sinne des Erblassers."
"Okay." Julian blieb misstrauisch, dennoch entschuldigend. In gewisser Weise hatte sich für ihn die Sachlage geklärt. Die Familiengeschichte seiner Mutter war immer ein dunkles Geheimnis. Es wurde nie darüber gesprochen. Das waren die ersten Fakten die er darüber zu Ohren bekam. Auf alle Fälle hatten sie ihn nachvollziehbar in den Besitz einer ansehnlichen Erbschaft gebracht.
"Darf ich Sie nun um Ihre Unterschrift bitten, Herr Sutter." Erneut reichte sie ihm lächelnd und erwartungsvoll die Füllfeder. Vertrauensvoll verliess er sich auf ihre Aussagen. Trotz ihrer Erläuterungen blieben für ihn die genauen Zusammenhänge erstlich einmal eine familiäre Theorie. Abgesehen davon machte sich allmählich die Müdigkeit bemerkbar. Die nächtliche Dauerfahrt war wohl doch nicht so spurlos an ihm vorüber gegangen wie angenommen. Er war allmählich froh, die ganze Angelegenheit und den Formularkrieg hinter sich zu bringen. Zuversichtlich griff er nach der Feder und setzte beruhigt seine Unterschrift. Blaue Tinte auf weisses Papier.
"Herzlichen Dank, Herr Sutter. Somit sind Sie nun glücklicher Besitzer einer Liegenschaft in Nieblum auf Föhr." Zufrieden schloss sie die Akten und erhob sich erleichtert von ihrem Stuhl.
"Kann ich Ihnen noch immer keinen Kaffee anbieten?"
"Einen Kaffee würde ich jetzt nicht ausschlagen - gerne." Julian erhob sich von dem bequemen Stuhl, streckte diskret seine Glieder und folgte der Anwältin an eine stilvoll eingerichtete Bar. Sie hantierte an der Kaffeemaschine, überreichte ihm die warme Tasse und verliess kurz den Raum. Kurz darauf legte sie einen alten gusseisernen Schlüssel auf die Theke.
"Dieser Schlüssel gehört nun Ihnen. Er ist Teil der Erbmasse. Leider weiss niemand in welches Schloss er passt. Das ist ein kleines Mysterium. Ich habe gemäss einem alten und kurzen Schreiben des Erblassers den Auftrag, diesen einem neuen Besitzer oder Besitzerin zu überreichen. Vielleicht haben Sie die Zeit und Gelegenheit das passende Schloss zu finden." Sie lächelte geheimnisvoll. Verblüfft griff er nach dem alten Schlüssel. Dieser war klein und alles andere als modern. Seine Farbe war matt und das Metall wies leichte Rostspuren auf. Für seine Grösse war er erstaunlich schwer.
"Und man weiss nicht wohin er gehört?"
"Nein. Das weiss man nicht. Seit er sich in unserem Besitz befindet, wurde nie danach geforscht. Das war auch nicht unsere Aufgabe. Gemäss dem Erblasser sollte er wie erklärt, an den Erben des Hauses übergeben werden. Mehr kann ich Ihnen leider auch nicht darüber sagen."
"Geheimnisvoll.!" Julian nahm einen Schluck aus der Tasse.
"Das ist es." Sie sass ihm aufrecht gegenüber. Gerader Rücken, gestreckter Hals. Lächelte ihn an. Sie mochte starke Männer.
"Wenn es Ihnen recht ist, werde ich Sie jetzt nach Nieblum zur Liegenschaft und in Ihre Unterkunft begleiten. Sie wollen sich sicherlich etwas ausruhen."
"Das wäre sehr nett von Ihnen - danke." Julian nahm einen letzten Schluck und schob die leere Tasse beiseite.
"Warum eigentlich in eine Pension? Ist die Liegenschaft nicht bewohnbar? Ich nehme an, es ist noch eine Einrichtung von Jansen vorhanden?"
"Ihre Frage ist durchaus verständlich, Herr Sutter." Die Frage war ihr unangenehm. Unverkennbar suchte sie einen kurzen Moment nach einer passenden Antwort.
"Das Haus ist sehr wohl bewohnbar. Ich war mir jedoch ehrlich gesagt nicht ganz sicher, ob es zur Unterschrift kommt. Nicht jede Erbschaft wird angenommen. Daher habe ich Ihnen, wie versprochen vorsorglich ein Zimmer reserviert. Eine Stornierung ist aber kein Problem."
"Dann schlage ich vor, Sie zeigen mir als erstes das Haus. Vielleicht bleibe ich gleich dort. Ich habe keine Fünf Sterne Ansprüche. Abgesehen davon haben Sie mich auf ein 250 Jahre altes Haus vorbereitet. Ich habe keine Millionenvilla erwartet."
"Wie sie wünschen." Sie kramte in einer Schreibtisch-Schublade und zog einen glänzenden Schlüsselbund hervor.
"Den werden wir benötigen. Er gehört zum Haus." Feierlich legte sie ihn Julian in die Hand.
"Aber von dem weiss man zumindest, zu welchem Herz der gehört?" Julian scherzte. Für einen kurzen Flirt war immer die richtige Gelegenheit. Sie wirkte wieder etwas aufgeschlossener.
"Ganz bestimmt, zur Haustür."
"Besten Dank. Ich bin wirklich sehr gespannt."
"Dann lassen Sie uns gehen. Mein Wagen steht nicht weit von hier beim Heymanns Parkplatz."
"Super." Julian folgte der Anwältin aus dem Büro. Das laute Klappern ihrer Stöckelschuhe schallte kurz darauf wieder durch das edle Foyer. Mit einem kräftigen Schwung hatte sich Julian das Gepäck auf den Rücken geworfen und den Gitarrenkoffer fest im Griff. Per Knopfdruck öffnete sich mit einem leisen Summen die Haustür. Schweigend folgte Julian seiner ortskundigen Führung durch die mittlerweile belebte Strasse. Staunend blickte er sich um und studierte aufmerksam die Geschäfte. Zwei oder drei Wochen wollte er an diesem Ort verbringen. Es wäre sicherlich ratsam bereits einige Läden zu kennen. Wartend standen sie an der Hauptstrasse. Der Verkehr war nicht wenig. Unerwartet kreuzte die unbekannte Schöne auf dem Fahrrad ihren Weg. Ihre schneeweisse Mütze und die Stulpen blitzten in der Sonne. Zu seinem Erstaunen winkte sie mit einem kurzen Lächeln seiner Begleiterin.
"Offensichtlich sind Sie auf der Insel bekannt, Frau Behlendörp." Er schmunzelte. Nicht ohne die verborgene Absicht, vielleicht auf diesem, unscheinbaren Wege etwas über die unbekannte Schöne zu erfahren."
"Das kann man sicher so sagen. Das bringt mein Beruf mit sich" Sie winkte lächelnd zurück. Kurz darauf war die Unbekannte bereits wieder hinter einer Biegung verschwunden.
"Unsere Kanzlei existiert auf Föhr bereits seit Generationen. Es gibt kaum jemand auf der Insel, dessen Erbangelegenheiten nicht irgendwann von unserer Kanzlei geregelt wurden. Natürlich haben sich in neuerer Zeit auch andere Kanzleien niedergelassen. Das wäre für uns mittlerweile gar nicht mehr alleine machbar", erklärte sie sichtlich mit Stolz.
"Studienkollegen, sozusagen."
"Ganz genau." Unweit startete ein älterer Mann ein aussergewöhnliches Vehikel. Ein selbst gebautes Gerät zwischen einem Fahrrad und einem Motorroller. Knatternd und mit qualmendem Motor fuhr er davon.
"Wir sind gleich beim Parkplatz", liess ihn Behlendörp wissen und kramte in ihrer Tasche nach dem Auto-Schlüssel.
"Interessante Strassennamen." Julian studierte die Beschilderungen.
"Boldixumerstrasse, klingt irgendwie nach Asterix und Obelix." Er scherzte und lachte.
"Ja, da haben Sie recht. Manche Strassen haben wirklich interessante Namen", bestätigte sie.
"Dort drüben ist mein Parkplatz." Zielstrebig marschierte sie zu einem goldfarbenen Wagen.
"Sie mögen SUVs?" Julian zeigte sich erstaunt. Diese Sport Utility Vehicle galten nicht unbedingt als Lieblinge des zarten Geschlechts.
"Im Winter ist es ganz angenehm, einen Allrad zu haben", reagierte sie freundlich.
‚Hyundai IX35. Ich glaub‘s nicht. Die fährt die gleiche Karre‘, dachte er verblüfft über diese Fügung. Er verstaute sein Gepäck und setzte sich auf den Beifahrersitz.
"Ich fahre genau denselben. Als Beifahrer ist das eine ganz neue Erfahrung."
"Das ist wirklich ein Zufall. Sind Sie zufrieden?" Smalltalk war wieder angesagt. Zumindest war das Thema in Ordnung.
"Voll und ganz zufrieden. Ist es weit bis Nieblum?" Er zog am Sicherheitsgurt und schnallte sich fest.
"Nein, überhaupt nicht. Es sind nur knapp vier Kilometer." Sie lächelte und sicherte sich mit dem Gurt.
"Zu Fuss oder mit dem Fahrrad!" Sie war bei guter Laune.
"Ach wirklich! - Aussergewöhnlich", quittierte er grinsend.
"Also knapp 7 Minuten", dachte er und blickte aus dem Fenster.
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