Denn, Pater Dominicus hatte es drohend beschworen, es gab so etwas wie die Sünde wider den Heilgen Geist. So recht wurde Bertold nicht klar, was damit gemeint war, aber es war so etwas wie der Versuch, Gott hereinzulegen. Und das war die schlimmste aller Sünden, für die auch kein Pastor, noch nicht einmal der Papst, die Absolution erteilen konnte. Und das bedeutete, dass man auf ewig besonders tief in der Hölle, also direkt in der Höllenglut, schmoren musste.
Später verstand er, dass damit die Sünde Adams und Evas gemeint war, die vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, obwohl es ihnen von Gott verboten worden war. Welche Erkenntnisse dieser Baum vermittelte, sagte der Teufel ganz klar. Sie würden sein wie Gott und selbst bestimmen, was gut und böse sei, und ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Wie wichtig Gott dieses Privileg, gut und böse festzulegen, für sich allein nahm, ging aus den Strafen hervor, mit denen er aufgrund des Sündenfalls der Ureltern die ganze Menschheit bestrafte: Mühe und Arbeit, Geburtswehen und Sterblichkeit.
Den Umgang mit der Ewigkeit nahm Bertold nicht so leicht wie andere. Schauer überliefen ihn, sein Magen verkrampfte sich, wenn er daran dachte. Dabei war die Ewigkeit nicht zu vermeiden, egal ob man an Himmel und Hölle glaubte oder nicht. Der Ausweg, die Vorstellung, dass man nach dem Tod ewig nicht mehr da wäre, verbot sich für ihn, weil er die Existenz Gottes leugnete. Der Gedanke hatte auch wenig Tröstliches und hob die Tatsache nicht auf, dass es eine Ewigkeit gab. Sollte die Welt ewig weiter existieren und er sollte nie dabei sein? Aber auch die Vorstellung, ewig im Himmel zu wohnen und dort Halleluja und Hosianna zu singen, wirkte nicht besonders anziehend. Würde das auf die Dauer nicht fürchterlich langweilig werden? Immerhin konnte er hier aus den Worten des Predigers, dass die himmlischen Freuden unsere Vorstellungskraft überträfen, etwas Hoffnung schöpfen. Schlichtweg unerträglich aber war der Gedanke, auf ewig in der Hölle zu schmoren und sich ewig Vorwürfe machen zu müssen, dass man wegen kleiner, kurzzeitiger Freuden die Probezeit auf der Erde nicht genutzt hatte, um sich für den Himmel zu qualifizieren. Bertold war sich bewusst, dass alle Zeiträume, ein Tag, ein Monat oder achtzig Jahre, im Vergleich zur Ewigkeit vernachlässigenswerte Größen waren, ebenso wie alle endlichen Zahlen, verglichen mit unendlich, so viel wie null waren.
Also beschloss Bertold ein guter Mensch zu werden. Dazu gehörte allerdings mehr, als nur nichts Böses zu tun. Man musste, so erfuhr er von dem fürchterlichen Prediger, Christus, der am Kreuz für die Menschen gestorben war, nachfolgen und selbst als Sühne für die sündigen Mitmenschen Leiden auf sich nehmen, um die Gesamtbilanz der Menschheit aufzubessern. Also verzichtete er schon mal auf den Pudding nach dem Sonntagessen, wofür er sich allerdings vor seinen Eltern mit der Ausrede, er sei völlig satt, sein Bauch tue ihm schon weh, rechtfertigen musste. Das war natürlich eine Lüge, die er auch noch mehrfach vorbringen musste, weil sein Vater meinte, Pudding passe immer noch in die Lücken, die das feste Essen im Magen hinterlassen hätte. Zwar war lügen eine Sünde, aber wegen des höheren Ziels ausnahmsweise in Kauf zu nehmen. Das hatten ja auch Heilige getan, wenn sie behaupteten, sie spürten bei der Folterung keine Schmerzen. Leichter ging es mit der Schokolade, die es höchst selten gab. Man konnte sie irgendwo verstecken und sich jeden Tag überwinden, sie nicht zu essen. Wenn man sich dann eine Woche lang gequält hatte und die Schokolade schon weiß anlief, durfte sie dann endlich gegessen werden, weil es ja auch verboten war, Nahrungsmittel verderben zu lassen. Schließlich würden sich ja auch die armen Negerlein in Afrika freuen, wenn sie einmal so etwas, und sei es auch nur Spinat mit ausgelassenem Speck, zu essen bekämen, wobei allerdings immer unklar blieb, wie die armen Negerlein an den ungeliebten Spinat, der auf seinem Teller lag, kommen sollten, wenn er ihn nicht aufaß. Gelegentlich legte er sich auch in Nachfolge von Jesu Kreuzweg einen Kieselstein in einen Schuh, lief damit herum und biss sich auf die Zähne. Wenn dann abends ein wenig Blut an einem Strumpf zu sehen war, konnte er sich zugute halten, dass er einem armen Sünderlein den Aufenthalt im Fegefeuer vielleicht um einen Tag oder sogar eine Woche verkürzt hatte. Im Stillen hoffte er, dass das auch von dem Allwissenden registriert würde.
Zum Sündigen hatte er als 12jähriger wenig Gelegenheit. Lügen, außer der Lüge zur Rechtfertigung eines Opfers, mochte er nicht. Außerdem war ihm der Gedanke unerträglich, bei einer Lüge erwischt zu werden und als Lügner dazustehen. Überhaupt wurde in seiner Familie nicht gelogen. Das galt für seine Eltern wie auch für seine Schwestern. Bertold konnte sich nicht erinnern, jemals ein Familienmitglied beim Lügen erwischt zu haben. Wenn es stimmen sollte, wie man las, dass jeder Mensch täglich etwa zweihundertmal lügt, dann war diese Statistik ohne seine Familie gemacht worden. In seiner Familie wurde nicht einmal übertrieben. Wenn Onkel Herbert als Gast beim Kaffeetrinken fünf Stück Kuchen gefuttert hatte, hieß es: „Onkel Herbert war so ausgehungert, dass er fünf Stück Kuchen in sich hineingestopft hat. Und hätte ihn seine Frau nicht daran gehindert, hätte er vielleicht noch fünf weitere genommen.“ Diese Angelegenheit wurde aber nicht als Anlass genommen, über Onkel Herberts Verfressenheit und die Bevormundung durch seine Frau zu lästern, sondern sogar ins Positive gewendet mit der Erklärung, der Kuchen sei offenbar sehr schmackhaft gewesen. Und es blieb bei fünf Stück, es wurden keine sechs oder sieben daraus, wie es in anderen Familien üblich war, wo man sogar aus den fünf Kuchenstücken gleich ein Dutzend gemacht hätte.
Ein Bedürfnis, andere zu verletzen, hatte Bertold nie. Das galt auch für Tiere. Schon bei dem grausamen Spielchen, das manche seiner Freunde liebten, einen Frosch mit einem Strohhalm aufzublasen und zum Platzen zu bringen, machte er nie mit. Er stahl auch keine Vogeleier aus den Nestern. Er hatte immer Mitleid mit gequälten Tieren. Raufereien konnte er allerdings nicht aus dem Weg gehen. Er fing zwar niemals eine Rauferei an, aber wenn er angegriffen wurde, musste er sich auch verteidigen. Unten zu liegen und einfach besiegt zu sein, konnte er nicht auf sich nehmen. Es ging ihm da wie Setembrini aus dem „Zauberberg“, der es als Humanist ablehnte, sich zu duellieren, sich als italienischer Patriot aber einem Duell stellen musste, wenn er dazu herausgefordert wurde, und der sich deshalb beim Duell als Humanist im Profil hinstellen wollte, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, als italienischer Patriot dem Gegner aber mit breiter Brust entgegen treten musste, und sich in diesem Dilemma dann für die Diagonale entschied.
So raufte sich denn auch Bertold nur zur Abwehr des Gegners, brachte ihm aber keine Niederlage und kein blaues Auge bei.
In dem katholischen Dunstkreis, in dem er aufwuchs, tauchten gelegentlich Missionare auf, die von ihrer Tätigkeit in fremden Ländern berichteten und von dem Glück der armen Heidenkinder erzählten, die nun für den Himmel gerettet waren. In seiner Familie wurde von diesen Missionaren mit höchster Achtung gesprochen, weil sie bereit waren, ungeheure Gefahren und Entbehrungen auf sich zu nehmen, der brennenden Sonne in südlichen Ländern zu trotzen, wilden Löwen ins Auge zu schauen und mit Schwarzen, Gelben und Roten in deren jeweiligem Kauderwelsch zu reden. Und wenn in der Kirche eine Kollekte für eine Missionsstation in Afrika veranstaltet wurde, spendete seine Mutter trotz der eigenen Armut einen Papierschein, einen Zehner oder gar einen Zwanziger statt des üblichen Beitrags von einer Mark. Für Bertold, der noch nie weiter in der Welt herumgekommen war als bis zur sieben Kilometer entfernten Kreisstadt, war die Vorstellung, in ein Land zu kommen, das er nur vom Atlas her kannte, und sich dort den wildesten Gefahren auszusetzen, schwindelerregend reizvoll. Selbst die Gefahr, von den dort in den Wäldern lebenden Menschenfressern mit Pfeilen getötet und verspeist zu werden, konnte ihn nicht erschrecken; denn dann war ihm das ewige Himmelreich sicher wie allen Märtyrern, deren Geschichte er seiner Oma vorlas. Würde er aber nicht bei der Bekehrung der Heiden getötet werden, war das Missionieren doch ein ziemlich sicherer, wenn auch weniger glorreicher Weg zum Himmel. Zudem versprach diese Tätigkeit die Bewunderung und Anerkennung durch seine Familie und das ganze Dorf, vermutlich sogar die der ganzen Christenheit.
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