Gerald Uhlig - Der charmante Nihilist
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Veröffentlicht im Verlag Edition Einstein, Berlin,
Oktober 2013
Copyright © 2013 by Edition Einstein, Berlin
published by: epubli GmbH, Berlin
Text & Illustrationen: Gerald Uhlig-Romero
Einbandgestaltung, Satz, Layout, Korrektorat & Lektorat: Juliane Schmidt, Berlin
www.einsteinudl.com
ISBN 978-3-8442-6895-9
Der charmante Nihilist
An heißen Tagen stehen Stühle- und Kaffeehaustische da wie Gehirne, die sich Kaffeehausgäste ausdenken. Ich stehe mit Eiswürfeln und Lichtkörpern in den Händen vor meinem Kaffeehaus in Berlin Mitte und versuche stündlich, die verzweifelte Dramaturgie ,Leben‘ in den Griff zu bekommen. Heute erst weiß ich, dass das Licht, das der eine von uns gemieden und der andere gesucht hat, uns beide blendete. Meine Welt ist mein Kaffeehaus und ich lerne stündlich aus meinen Niederlagen. Angenommen, man wird nicht mit einem berühmten Namen als Marke in die Welt hinein geboren, wie soll man da heute überleben? Es wird einem wohl nichts anderes übrig bleiben, als den Zufall auf seine Seite zu bekommen und zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, flüstert einer der wenigen Gäste im Kaffeehaus. Ich kenne die Personen genau, die sich immer geärgert haben, dass die zufällig reich Geborenen die schönsten Plätze an der Sonne ergattern konnten, während sie mit ihren Fleißkärtchen nur in der Provinz herrschen durften. Bei diesen reich Geborenen sieht alles nach einer ausgeklügelten Logistik aus, aber in Wirklichkeit improvisieren sie von Augenblick zu Augenblick. Meine Sympathie im Kaffeehaus gehört der stillen Blume, die dort am hinteren Tisch 26 sitzt und irgendwann gepflückt werden will, aber für Berlin ist sie zu langsam, um entdeckt zu werden und dann ist sie auch schon verblüht. Ihr Name ist Ana. Der argentinische Kellner serviert ihr einen Espresso. Ana öffnet das Zuckertütchen, das sie in ihrer Hand hält. Sie gibt das fein gemahlene Weiß auf ihren Löffel. Wie durch eine Sanduhr lässt Sie den Zucker auf die schwarze Oberfläche ihres Espressos rieseln, bis auf dieser Oberfläche ein kleiner Zuckerberg entsteht, der bald versinkt und sich löst, tief unten im Schwarz.
Die Hitze an diesem Tag nimmt zu. Ich setze mich an Tisch 34, hier ist es ein wenig kühler im Kaffeehaus. Der Kellner Carlos bringt mir meinen geheiligten Aperitif. Dazu verselbstständigen sich, wie jeden Nachmittag gegen 17 Uhr, meine Gedanken.
Ohne Geborgenheit werde ich unruhig. Ich stolpere ziellos vorwärts. Jeder Schritt nach vorne beginnt als ein Sturz, den die Muskulatur sofort auffangen muss. Ich wollte mein Leben lang immer alles sein. Heute bin ich ein charmanter Nihilist. Unser ganzes Leben wird geprägt von den Rollenerwartungen, die die Anderen an uns stellen und wir an sie. Es ist frappierend zu sehen, wie schnell wir uns alle in alle möglichen Rollen einfinden. Wer Glück hat in seinem Leben, findet ein paar Menschen, die wirklich glauben, man sei o.k. und nicht nur Leute, die mit Rotstiften dasitzen und schauen, was bei einem nicht stimmt.
„Machen unsere erlernten Bewertungen und das Futter unserer Umgebung eigentlich unser ganzes Selbst aus?“, denke ich, als ich den letzten Schluck meines Aperitifs zu mir nehme. Ich halte die Stunden zwischen Abenddämmerung und Morgengrauen für farbiger als den Tag in dieser Stadt und deshalb bin ich ein Jäger mit feinster Witterung für erstklassige Beute. Ob zu kurz gekommen oder durch den Zufall verwöhnt, alle bestehen wir aus einem Haufen biologischem und chemischem Müll. Mit 80% Wasser und 100% Zeit sind wir Touristen in unserem Leben bis zu dem Tag, an dem wir sterben und die Reise wieder zurückgeht in die atomare Geheimgesellschaft der kleinen, kleinsten Teilchen. Die Erde nimmt immer wieder das auf, was sie einst hervorgebracht hat. Herrlich, diese Lebensreise aus dem Nichts, ins Nichts zum Nichts. Ich werde diese kostbare Erkenntnis aushalten, mir den Tod zum Freund machen, bis das Kaffeehaus abends gegen 22 Uhr geschlossen wird. Aber auch nach 22 Uhr finde ich immer wieder das kleine, feine Lachen im Glück meines Unglücks.
Als mich ein Stammgast letzten Freitag mit meinen Eiswürfeln und Lichtkörpern in den Händen im Kaffeehaus aufsuchte, bat er mich mehrfach um Wiedergutmachung für seine angebrannte Spagettisauce. Trage ich denn für alle Missgeschicke die Schuld?
Viele um mich herum haben Tumore, andere liegen in meinem Alter bereits mausetot am Schreibtisch. Aber auch wer gesund stirbt, ist definitiv tot und hat vielleicht sein Leben verpasst. Ein kurzes, authentisches Leben kann manchmal erfüllter sein als ein langes – und man kann um einiges glücklicher leben, wenn man Frieden mit seinem Leben, seinen Krankheiten und dem Tod macht. Es gibt so viele gesunde Schwachköpfe, die lustlos durch ihr Leben stolpern; Menschen mit Krankheiten und Behinderungen sind nicht selten Lebenskünstler mit praller Lust am Dasein.
„Leben ist immer ein gefährdetes Projekt. Aber wir können nie tiefer fallen, als es die Natur für uns Menschen vorgesehen hat,“ flüstere ich leise Carlos zu, während er an mir vorübergeht.
Meine Worte spreche ich oft schutzlos hinein ins Kaffeehaus. Sie gelten nur für die nächsten Minuten, mit viel Glück vielleicht für die nächsten Stunden oder Tage.
Meine Augen sind getrieben. Sie suchen nach der Symmetrie der Dinge. Sie suchen immer nach der Schönheit der Körper. Nach der Klarheit der Gedanken. Ich bin ein Wesen, das sich im Augenblick der Neugierde verzehrt, ohne dabei zu fragen, ob man mich später noch gebrauchen kann. „Der Mensch ist ein von Grund auf restaurationsbedürftiges Gebilde, das schon nach wenigen Stunden aus der Form gerät und deshalb müssen wir, die wir lieben und hoffen oder häufig an unserer Leere verzweifeln, jeden Tag neu renoviert werden,“ ruft Sloterdijk durch die Eingangstüre des Kaffeehauses.
Niemand ist von früh bis spät Genie. Alles, was lebt, ist ein Mahnmal der Hinfälligkeit der Schöpfung. Seele, Liebe, Glauben sind Nervenreizungen und gegen die Zumutungen der Natur gibt es kein Entrinnen. Für Viele ist der bloße Akt des Weiterlebens die eigentliche Heldentat. Traurige Helden. Mit dem Leben ist es wie mit dem Schauspieler, der einen fremden Text so sagen kann, als hätte er ihn gerade erfunden. Es ist diese Fremdheit aus der wir gemacht sind, aus der wir alle bestehen. Aus dieser Fremdheit schält sich das Selbst nach und nach heraus. So ist der Mensch ein Flickwerk, zusammengetragen aus dem Fremden, aus der Nachahmung, aus dem ständigen sich Spiegeln in anderen. Das Selbst ist der größte Traum und Trugschluss des Menschen, kaum angedacht, verschwindet es wie eine Welle am Strand. Und trotzdem hat sich uns ein Selbst erschaffen, welches manchmal den Dingen gewachsen ist. Vielleicht habe ich mich dazu auserkoren, Geistesblitze im Kaffeehaus aufzufangen, um sie in Kunst und Besäufnisse umzuwandeln.
„Carlos, bringen Sie mir bitte eine Melange mit einem Glas stillen Wasser.“
Angst. Eine Störung mit 60 Watt.
Ana und ich sind ein Paar. Heute, an diesem heißen Tag im Kaffeehaus, wirft sie mir Folgendes vor: Ich bin gepeinigt, geschlagen von der Schlaflosigkeit, die du mir ständig aufdrängst. Statt der ersehnten Selbstvergessenheit und Leichtigkeit quälst du mich mit Gedanken. Unvollständige Gedanken, unfruchtbare Gedanken, zersplitterte Gedanken, die Angst vor dem Ungewissen, diese nächtliche Zerrissenheit. Du zwingst mich zu den Schlaftabletten, zur chemischen Beruhigung, diese verflucht hohen Ansprüche, die du mir aufzwingst, diese ständige Unzufriedenheit, ich hätte mehr aus mir machen können, bessere Gedanken, besseres Schreiben. Erwartungsangst, Vermeidungsangst, Überforderungsangst, generalisierte Angst, Todesangst und Ruhmsucht, Versagensangst, Lebensangst, Krise und Größenwahn, die Angst, das Falsche zu tun, die Angst vor der Ablehnung, die Selbstablehnung, die Angst vor der Angst, Verzweiflung und Höhenflug: Alles vermischt sich zu einem Getränk in mir.“ Mit einer Energie von 60 Watt in ihrem Kopf spricht Ana weiter zu mir.
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