„Lassen Sie mich durch, ich muss da durch“, keifte sie in akzentfreiem Deutsch. Zwei Sicherheitsleute packten sie und führten sie weg. Außer mir waren auch ein paar Gäste auf die Frau aufmerksam geworden, doch sie schüttelten nur lächelnd den Kopf und vertieften sich wieder in ihre Gespräche. Mein Blick aber folgte der Frau, ich sah, sie begehrte auf, sie wollte sich losreißen, ich hörte ihr Gekreische: „Lassen Sie mich los. Ich bin ein freier Mensch, Finger weg, verdammt noch mal. Sind Sie ganz bei Trost? Hände weg.“
Dann verlor ich sie hinter den Büschen aus den Augen und mit einem Mal war es mächtig still. Ich hörte, so sehr ich auch horchte, nur noch das wabernde Gemurmel der Menschen, die mich umgaben.
Was hatte diese Frau gewollt? War sie geistig verwirrt und durch Zufall auf das Kongressgelände geraten? Oder hatte sie jemanden sprechen wollen und wurde nicht vorgelassen? Der Gedanke beschäftigte mich, er bohrte sich tief in mein Innerstes. Ich verließ den Vorplatz der Eingangshalle und eilte den Weg entlang. Dorthin, wo die Frau aus meinem Blickfeld verschwunden war. Ich kam nur dreißig Meter weit. Ein Sicherheitsmann stellte sich mir in den Weg. Er wies in Richtung Halle. „Wollen Sie nicht hineingehen? Die Gesundheitsministerin ist bestimmt schon auf dem Podium ...“
Ich kratzte mich am Kinn. „Die Frau, diese rothaarige Frau, die da gerade so herumkrakeelt hat. Wo ist sie?“
Der Sicherheitsmann zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Auf ihrem Weg. Auf dem rechten Weg.“ Er grinste. „Manchen bekommt die Sonne einfach nicht.“
Er war wie eine Wand. Er blieb solange vor mir stehen, bis ich nach einigen Sekunden aufgab und zurückging. Ich schaute mich nochmals um, ehe ich die Halle wieder betrat. Der Sicherheitsmann war mir nachgekommen, hatte mich fest im Blick. Er versicherte sich, dass ich wirklich hineinging. Spätestens jetzt ahnte ich, dass Mallorca mehr zu bieten hatte als herrliche Natur und Urlaubsfeeling.
Zurück im Hotel musste ich mir allerdings eingestehen, wegen der Pillen hatte ich mir grundlos Sorgen gemacht. Ich sprach mit der Empfangsdame. Die Ledermappe rührte anscheinend noch von einer anderen Veranstaltung her. Deren Gast hatte sie wohl unangetastet im Zimmer liegen lassen oder sie schlichtweg vergessen. Die Empfangsdame entschuldigte sich und erklärte, die Mappe werde vom Zimmerservice gleich entfernt, aber ich schlug vor selbst hinaufzugehen und die Mappe am Empfang zu hinterlegen. Sie willigte ein. Ich weiß nicht, welcher Instinkt mich dazu verleitete, als ich die Ledermappe aus meinem Zimmer holte. Ehe ich sie zurückgab, nahm ich die Folien mit den Pillen einfach heraus und steckte sie mit dem Begleitzettel in die Tasche meiner Jacke. Meine scheinheilige Frage danach, welche Veranstaltung der Gast vor mir besucht hatte, etwa eine Messe oder ebenfalls eine Tagung, konnte mir die Rezeptionistin nicht beantworten. Sie lächelte mich freundlich an und sagte, es sei indiskret, solche Informationen herauszugeben. Ich entgegnete, mir gehe es um die Veranstaltung, nicht um den Namen des Gastes. Aber das wollte sie nicht gelten lassen. Sie sagte, ich könne sehr schnell selbst herausfinden, welche Veranstaltung es sei und zeigte auf die Internetecke im Foyer.
Mein Ehrgeiz war geweckt. Während Georg, Til, Rainer-Maria und Konsorten sich wahrscheinlich schon auf den Zimmern für die Bootparty in frische Kleider hüllten, saß ich in der Lobby am Rechner und forschte im weltweiten elektronischen Netz. Aber so sehr ich auch stöberte, ich fand keine Veranstaltung, die in den letzten Tagen auf der Insel stattgefunden hatte und gleichsam zum Thema Angst und Depression passte. Das kleine Rätsel konnte also nicht entschlüsselt werden, es sei denn, ich bestach den Nachtportier, um den Namen des Gastes zu erfahren, der die Ledermappe hätte eigentlich erhalten sollen. Aber das war mir dann doch des Guten ein wenig zu viel. Kurz war ich geneigt, an ein geheimes Treffen unter Eingeweihten zu denken, aber dann erschien mir der Gedanke zu kurios und abwegig.
Mein Cordanzug war ein wenig verknittert, ein frisches blaues Poloshirt zog ich noch an, frisierte mein Haar neu, band es mit dem schwarzen Gummi ordentlich im Nacken zusammen und gab ein paar Spritzer Eau de Parfum auf die Halsbeuge. Es war die Marke, die Anita mir geschenkt hatte, die sie an mir so liebte (besser: geliebt hatte) und ich benutzte es sehr sparsam, da das Duftwasser, so viel ich wusste, nicht mehr hergestellt wurde und schwer zu bekommen war. Ich brauchte Mut auf der Bootparty, viel Mut und so genehmigte ich mir ein paar Kurze aus der Zimmerbar, ehe ich zum abfahrbereiten Shuttlebus hinunterging. Was machte es schon? Ich hatte mich fit gemacht für den Vortrag, er war vorüber, ich nahm keine Medikamente, wer wollte da einem das Schlückchen Alkohol verwehren.
Ziemlich beschwipst bestieg ich das Partyboot und hatte dort Mühe, die Übersicht zu behalten. Es wimmelte nur so von gutaussehenden Hostessen, leicht bekleideten, beinahe ausschließlich weiblichen Bedienungen des Caterings, die Begrüßungsgetränke und Snacks reichten. Mittendrin natürlich die Redner (abgesehen von Helga) und jede Menge Industrielle. Die Reise führte von Palma zum Hafen von Andratx und wieder zurück – so hatte ich dem Flyer entnommen – erst in den frühen Morgenstunden würden wir wieder in Palma anlegen und dann das Hotel aufsuchen.
Ich stand eine Weile etwas verloren an der Reling, hielt mich an meinem Cocktailglas fest und genoss die Aussicht, als Carl-Maria, der Pharmareferent, und Marketingspezialist Dennis mir ein wenig Gesellschaft leisteten.
Sie sprachen davon, dass man bei Port des Canonge gut Polo spielen könne. Sie fragten mich, ob ich Interesse daran hätte, es zu versuchen. Ich lehnte dankend ab. Ich könne nicht reiten und mir zudem nicht vorstellen, im Sattel sitzend einem kleinen Ball nachzujagen.
Dennis klopfte mir auf die Schulter. „Albert“, sagte er, „warum so zugeknöpft, der Appetit kommt beim Essen. Vielleicht bist du der geborene Reiter und hast es nicht versucht.“
Carl-Maria lächelte sanft und wissend. „Keine Angst. Ich habe auch vor vielen Dingen ungeheuren Respekt gehabt. Aber ich habe es probiert und bin so zu einem kleinen Adrenalin-Junkie geworden. Speedclimbing, Wasserski, Rafting, Wingsuit Base Jumping – das ist einfach überwältigend.“
Ich war mehr als überrascht. Carl-Maria sah mir nicht gerade aus wie ein Athlet. Er war sicher Mitte vierzig. Kahlrasierter Schädel, Drei-Tage-Bart, Brille. Schlaksig. Eins neunzig groß. Aber man kann sich irren. Ich wusste nichts zu antworten angesichts der mitreißenden, packenden Angstlust, die er mir vorschlug. Ich fühlte mich vielmehr an den Philosophen Martin Heidegger erinnert. Das Sein, das zum Tode strebt.
„Ich frage mich“, sagte ich, „inwieweit mich das waghalsige Sporteln zu mir selbst bringen kann. Begreife ich mich selbst dadurch besser?“
„Ach“, sagte Carl-Maria gedehnt, „Du bist mir ein Spielverderber. Grüble nicht. Riskiere mal was.“
Dennis trank schmatzend seinen Aperitif, schaute mich herausfordernd an. „Die Welt ist ein Paradox, Albert, aber es gibt ständig nur Wagnisse. Alles ist immer möglich, aber, müssen wir deshalb ständig Ängste hegen? Wir sind doch frei. Die Freiheit ist unendlich.“
Jetzt lachte er höhnisch, lachte selbstgefällig, lachte immer lauter. Fast teuflisch. Dann stürzte er den Rest seines Aperitifs hinunter. „Ich gehe mal, genehmige mir noch einen und kümmere mich um Lydia“, erklärte er. Er deutete auf die reizende blondhaarige Hostess, die ganz in der Nähe stand und dafür sorgte, dass die Amuse Gueules – knusprige Brotchips mit Sardinenpaste –, unter die Leute kamen. „Sie ist aus Sankt Petersburg“, raunte er und verdrehte die Augen, als würde er von einer auf die andere Sekunde den Verstand verlieren.
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