Das Runde und das Eckige. Lebensbestimmende Formen.
Vielleicht die Wesentlichsten.
Dirk K. Zimmermann
Lattenschuss
Kicker auf der Couch
Roman
Autor: Dirk K. Zimmermann
Originalausgabe September 2015
Covermotiv: © Dirk Zimmermann
Umschlaggestaltung: 211entertainment
Die Handlung des Romans ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt .
Impressum
© 2015 Dirk K. Zimmermann
Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin
ISBN 978-3-7375-3355-3
Printed in Germany
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Die Pille. Die Kirsche. Das Ei. Das Ding. Das Leder. Der Ball ist rund. Das Spiel dauert neunzig Minuten. Elf Freunde müsst ihr sein. Geht raus, spielt Fußball. Flach spielen, hoch gewinnen. Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Plattitüden. Treffen das Thema doch nur am Rande. Das war alles viel komplizierter. Das sollte ich entdecken.
Ich habe mich eigentlich nie sonderlich für Leibesübungen interessiert. Bockspringen. Ringe. Reck. Am Seil zur Hallendecke hinaufklettern. Barren. Weitsprung. Fünfzig-Meter-Lauf, Hundert-Meter-Lauf. Dauerlauf. Öde! – Wie sagte Nachbar Koller noch, als wir auf der Straße ein Schwätzchen hielten und zwei Jogger schweißüberströmt an uns vorbeiliefen? – „Die stressen sich wieder.“ Koller war ein ehemaliger Kneipenwirt, sollte man vielleicht wissen. Sport war schon für ihn okay. Einarmiges Reißen. Damit meinte er das Führen eines Bierglases zum Mund. Augensprint. Bedeutet, im Bezahlfernsehen Fußball gucken. Zungen-akrobatik. Fachsimpeln. Aber eben keinen Stress, sondern Genuss.
Soweit ich weiß, sind in seiner Gaststätte Zur Eiche nur zwei Stammgäste an einem Herzinfarkt gestorben. Vom Stuhl gesackt. So mir nichts, dir nichts. Koller wollte den plötzlichen Herztod von keinem der beiden auf ein mitreißendes Fußballerlebnis zurückführen. Obwohl beim ersten, einem SC-Fan, der Sensenmann kurz nach einem Mittwochabend-Spiel vorbeikam und der Herr sich aufregte, weil die 4:1-Niederlage durch zwei unberechtigte Rote Karten gegen seine Mannschaft hervorgerufen worden sei; der zweite, ein FC-Fan, am Sonntagnachmittag das Zeitliche segnete, beim siebten Frust-Pils und Doppelkorn, kurz nachdem der FC mit 4:0 von der Sportvereinigung deklassiert worden war. Der Herztod-Gast hatte nur eineinhalb Stunden zuvor noch auf der Tribüne gestanden, die Fäuste dem Schiedsrichter wutentbrannt mit hochrotem Kopf entgegenreckend. Drei Strafstöße gegen den FC. Allesamt selbstverständlich Fehlentscheidungen. Da ist man auf hundertachtzig. Und dann ... Herzkasper!
Ludus. Das Spiel. Meiner Meinung nach wird es immer dann besonders interessant, wenn Sport gleich Spiel ist, und ein Ball dabei im Zentrum der Aktion steht. – Die Arena. Die Zuschauer. Die Gladiatoren zum Wettkampf bereit.
Ich war mal ein kleiner Gladiator gewesen. Ich hatte in der C-Jugend mit dem Fußballspiel begonnen. Als Verteidiger. Warum wird man Verteidiger? Weil der Trainer einem nur zutraut, das Spiel zu zerstören. Zumindest mein Trainer dachte so.
In der B-Jugend und in der A-Jugend war ich dann Mittelfeldspieler. Nicht die Nummer zehn. Die Nummer acht. Zentrale Schaltstelle. Früher bedeutete das was. Die Nummer. Heute ist das ja egal, ist alles ein Nummernsalat geworden. Aber früher wusstest du, die zehn, das ist der Spielmacher. Ich war Kreismeister mit den A-Junioren. Das war ganz nett gewesen. Die Mädchen aus der Nachbarschaft oder welche, die man von der Schule her kannte, kamen manchmal zum Spiel und guckten zu wie wir tricksten und kämpften. Mehr kämpften. „Man muss über den Kampf zum Spiel finden“, sagte unser Trainer immer. „Tugenden entdecken.“ Es fiel mir schwer an Tugenden zu glauben, wenn ich die Schienbeine beim Pressschlag bersten hörte. „Du darfst nicht zurückziehen“, hieß es im Training. „Wer zurückzieht, der verletzt sich!“ – Dann das nächste Spiel. Kurz vor der Halbzeit. Der Ball tickte nach einem weiten Abschlag des Torhüters auf, sank gen Erdboden, der gegnerische Verteidiger und unser Stürmer preschten heran, zielten, zogen das Schussbein mit voller Wucht durch, der eine traf den Ball, der andere den Ball auch, aber ein ganz kleines bisschen später als sein Kontrahent. Der zu spät gekommene Fuß rutschte über die Kugel hinauf zum Schienbein des Gegenspielers und – Knack! Paralysierte Schmerzensschreie. Trage. Rettungswagen. Chöre von den Rängen: Auf Wiedersehen. Auf Wiedersehen.
Brot und Spiele.
Ich habe mit achtzehn Jahren aufgehört Fußball zu spielen. Bin aus dem Verein ausgetreten. In eine andere Stadt gezogen. Habe mich für andere Dinge interessiert. Bin nur ab und zu mal ins Stadion gegangen. Mit Freunden. Currywurst essen. Ein Bier trinken. Das Gekicke anschauen. Mitfiebern. Meistens Stehplatz. Manchmal Sitzplatz. Fußball ist ja auch die schönste Nebensache der Welt, sagt man.
Sie wurde allerdings zur Hauptsache. Einige Jahre später. Nach meiner Zeit an der Universität. 1990. Ich hatte mein Psychologiestudium erfolgreich absolviert und eine Praxis im Sauerland eröffnet. In einem kleinen Ort, Vierthal, dreißigtausend Einwohner, direkt an der Lenne gelegen. Es praktizierten dort: Drei Zahnärzte, zwei Gynäkologen, drei Allgemeinmediziner, ein Chirurg, ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt, ein Augenarzt. Und ab sofort ein Psychologe, meine Wenigkeit, mit Namen Albert Wallmann, Anfang dreißig. Meine Praxis war mickrig. Ein Vorraum, ein Gesprächsraum, ausgestattet mit einem Tisch, zwei Stühlen und zwei Sesseln, einer alten abgewetzten Ledercouch.
Man kann sich denken, ein zugezogener Seelenklempner und die robusten Sauerländer. Wer soll da schon in die Praxis kommen? Zappelige Kinder. Vielleicht. Irgendwann mal. Der Anton mit dem Augentick. Den man in der Stadt den Blinzler nannte. Bei ihm hatte alles Pointe. Auf dem Markt sagte er der Obstverkäuferin die Äpfel seien aber schön knackig und kniff dabei ein Auge. Weil seine Nerven es so wollten. Daraufhin bekam er direkt eine geschallert.
Anton war mein Klient. Hinzu kamen Rosel mit dem Putzfimmel und Wilfried mit dem Waschzwang. Das war’s. Nach gängigen wirtschaftlichen Kalkülen macht einem die Werbebranche ja vor, wie es gehen muss, wenn eine Dienst-leistung nicht sonderlich nachgefragt wird. Man muss Interesse und Begehrlichkeiten dafür wecken. War ich leider nicht der Typ dazu. Aber ich bemerkte, dass es in der Stadt unheimlich viele Brillenträger gab und wusste durch ein Pläuschchen beim Metzger, als ich mir mittags ein Fleischwurstbrötchen einverleibte, dass die Stadt, besser gesagt, die Bevölkerung von Vierthal, ein beinahe pandemisches Problem mit der Angina tonsillaris – also der Mandelentzündung – hatte, welches dazu führte, dass der ansässige Hals-Nasen-Ohren-Arzt im Eilverfahren Mandeln entfernte und gerade erst nach seiner frisch gekauften nagelneuen Mercedes-Limousine auch noch die Villa Ulmenhain sein Eigentum nennen durfte. Man muss die Gunst der Stunde nutzen. Diese Quintessenz schien mir Vierthal zuzurufen.
Mein Einstand als Psychologe stand im Jahr 1990, dem Jahr in dem Deutschland Fußball-Weltmeister wurde – Sie entsinnen sich, unser Andi Brehme verwandelte im Endspiel gegen Argentinien sicher den entscheidenden Elfmeter zum 1:0 – unter einem schlechten Stern. Als Pionier fernab neurotischer Urbanität schien ich bereits im Ansatz zu scheitern. Ich wusste nicht, wie ich die Miete zahlen sollte, hatte meine Mutter angerufen und sie zum wiederholten Male anzupumpen versucht, diesmal erfolglos, ich sei enterbt, mit diesem herzlosen Satz beendete sie das Telefongespräch, als Detlef Dudel in meine Praxis kam.
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