Dorothee Degen-Zimmermann - Mich hat niemand gefragt

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Gertrud Mosimann (1916-2001) hat von Anfang an schlechte Karten: Als uneheliches Kind kommt sie in Zürich zur Welt und wächst bei verschiedenen Pflegefamilien und in einem Heim auf. Und von Geburt an sieht sie fast nichts. Aber beharrlich führt sie ihr schwieriges Leben in den Nischen, die die Gesellschaft ihr bieten kann. Dieses Leben ist bis in die achtziger Jahre hinein von Armut geprägt, aber sie klagt nicht, und sie verbittert nicht. Dorothee Degen-Zimmermann schildert im Gegenteil eine zähe Frau voll Schalk und Lebenslust. Nüchtern und lebendig erzählt sie die Geschichten, die Gertrud Mosimann widerfahren sind. Gleichzeitig spiegelt sich in diesem Leben auch ein Stück unbekannte Schweizer Geschichte.

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Dorothee Degen-Zimmermann

Mich hat niemand gefragt

Die Lebensgeschichte der Gertrud Mosimann

Limmat Verlag

Zürich

Über dieses Buch

Gertrud Mosimann (1916-2001) hat von Anfang an schlechte Karten: Als uneheliches Kind kommt sie in Zürich zur Welt und wächst bei verschiedenen Pflegefamilien und in einem Heim auf. Und von Geburt an sieht sie fast nichts. Aber beharrlich führt sie ihr schwieriges Leben in den Nischen, die die Gesellschaft ihr bieten kann. Dieses Leben ist bis in die achtziger Jahre hinein von Armut geprägt, aber sie klagt nicht, und sie verbittert nicht. Dorothee Degen-Zimmermann schildert im Gegenteil eine zähe Frau voll Schalk und Lebenslust. Nüchtern und lebendig erzählt sie die Geschichten, die Gertrud Mosimann widerfahren sind. Gleichzeitig spiegelt sich in diesem Leben auch ein Stück unbekannte Schweizer Geschichte.

Dorothee DegenZimmermann geboren 1946 in Olten Ausbildung zur - фото 1

Dorothee Degen-Zimmermann, geboren 1946 in Olten, Ausbildung zur Primarlehrerin. Arbeitet als Redaktorin der Fachzeitschrift «Und Kinder» sowie als Journalistin. Sie lebt in Zürich.

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Ich sitze auf der Schaukel und bekomme dünnen, weissen Brei gelöffelt, darin schwimmen dunkle Flecken. Ich versuche sie mit meinen Fingern herauszuklauben, sie schmecken am besten, es sind Weinbeeren. Es ist schwierig, sie sind schlüpfrig wie Fischchen.

Das ist eine meiner frühesten Erinnerungen. Ich war damals im «Pilgerbrunnen» und etwa drei Jahre alt. Dass sich viele meiner Erinnerungs«bilder» mehr am Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn orientieren als am Sehen, liegt nicht nur an der Art kleiner Kinder: Ich sah schon damals fast nichts.

Einmal haben sie mich putzig zurechtgemacht mit Haarschleifen und einem niedlichen Röckchen. Ich stehe auf der Treppenstufe und kann mich nirgends festhalten. Alle wollen, dass ich lache, und der Mann tut so aufgeregt und schwatzt immerzu von einem Vögelein. Aber ich sehe kein Vögelein, ich sehe nicht einmal den Mann. Ich mag nicht lachen, ich habe Angst vor dem Mann, Angst vor dem Vögelein, Angst, ich könnte die Treppe hinunterfallen. Sie sollen nicht so lachen und ein Geschrei machen! Schliesslich hebt mich die Schwester hoch. Sie zieht mir das schöne Kleidchen aus, es gehört nicht mir, ich habe es nur für die Fotografie ausgeliehen bekommen.

Die Foto gibt es, man sieht mir meine Verstörtheit an. Der «Pilgerbrunnen» in Zürich – damals, vor der Eingemeindung von Altstetten und Albisrieden, noch am Stadtrand – war eine Maternité für ledige Mütter, die hier die letzten Wochen vor der Geburt verbrachten und für ihren Lebensunterhalt arbeiteten. Wenn sie nicht selbst für ihre Kinder sorgen konnten, wurden diese noch bis zu zwei Jahren im «Pilgerbrunnen» betreut, bis sie in einer Pflegefamilie oder in einem Heim untergebracht wurden. Die Maternité wurde von Diakonissen geleitet, die für Zucht und Ordnung sorgten und kräftig darauf hinwirkten, dass sich die jungen Mütter – «gefallene Mädchen» nannte man sie damals – bekehrten. Meine Mutter soll in der Nacht vor meiner Geburt den Heiland angenommen haben.

Hier wurde ich am 29. April 1916 geboren, zwei Monate nach dem 23. Geburtstag meiner Mutter, die selbst noch ein Kind war. Sie hatte keine Ahnung, das naive Geschöpf! Sie soll erst im sechsten oder siebten Monat erfahren haben, dass sie schwanger war. Eine Freundin hatte sie darauf aufmerksam gemacht. Was nun? Bei den zwei frommen Schwestern Rupflin in Zizers, wo sie diente, konnte sie nicht bleiben. Heim nach Biel? Das kleine Häuschen war auch ohne sie schon zu voll, und das Urteil über eine ledige Mutter unbarmherzig. Dann war da in Biel noch der Stauffer, der Kindsvater, und die ältere Schwester Ida riet heftig davon ab, dass sie sich weiter mit dem einlasse. Die Freundin, die sie über ihren Zustand aufgeklärt hatte, ein Dienstmädchen aus Österreich, wollte ihr zur Flucht ins Ausland helfen, aber dazu hatte sie den Mut nicht. Irgend jemand wusste dann vom «Pilgerbrunnen» in Zürich.

Nach meiner Geburt vermittelten die Diakonissen meiner Mutter eine Stelle als Küchenmädchen in der Epileptischen Anstalt. Dort hielt sie es nur ein Jahr aus, sie fürchtete sich immer, wenn einer der Patienten in der Küche umfiel und schäumte. Dann kam sie ins Bethanienheim hinauf, wieder in die Küche, dort blieb sie viele Jahre. Sie war gut aufgehoben, hatte rechtes Essen und ein Unterkommen, aber sie verdiente fast nichts.

Die Vormundschaftsbehörde nahm sich meiner an. Mein Erzeuger wurde ausfindig gemacht. Er versuchte sich aus der Verantwortung zu stehlen, ohne Erfolg, und wurde zum Zahlen aufgefordert. 25 Franken monatlich musste er für mich bezahlen, später 35, bis er arbeitslos und aus der Pflicht entlassen wurde.

Ich blieb drei Jahre lang im «Pilgerbrunnen» in Pflege. Gewöhnlich wurden die Kinder nach zwei Jahren an einem andern Ort untergebracht, aber ich hatte noch nicht laufen gelernt, die Rachitis hatte meine Beinchen krumm und schwach gemacht. So durfte ich noch ein Jahr länger bleiben. Dann kam ich in eine Pflegefamilie.

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Ich sitze auf dem Stubenboden, auf dem Tüchlein, das die Frau für mich ausgebreitet hat. Die Nische hinter der Stubentür ist meine Welt. Was weiter weg ist, ist verschwommen. Wenn sich etwas bewegt, ist es die Frau, manchmal auch die Mutter.

Ich bin allein. Ich habe meinen kleinen Ball. Der rollt mir manchmal weg, ich rutsche auf dem Po umher und greife und taste, bis ich ihn wieder erwische. Dann ziehe ich mich wieder in meine Ecke zurück. Hier soll ich bleiben, hat die Frau gesagt. Ich soll keine Unordnung machen, hat sie gesagt. Sie putze nicht gern. Sie putzt aber doch gern. Wenn sie nicht im Laden ist, putzt sie. Ich höre ihre Schritte auf der Treppe. Sie ist zufrieden, dass sie mich auf dem Tüchlein findet, ich bin ein braves Kind. Sie bringt mir Proches (zerbrochenes Gebäck) aus der Bäckerei oder angebrannte Guetzli. «Weisst, Trudeli, am Mittag bekommst du Makkcharoni und Salat.» Wie das kratzt und krost im Hals, wenn sie «Makkcharoni» sagt, sie widerstehen mir schon in den Ohren.

Am Sonntagnachmittag kommt die Mutter zu mir. Wie ich mich freue, wenn ich ihre Stimme höre! Ich laufe auf meinen unsicheren Beinen in den verschwommenen Nebel auf das Etwas zu, dessen Stimme ich kenne. Sie lacht und herzt mich. Wir gehen miteinander spazieren. Sie spielt mit mir Verstecken, sie muss nur ein paar Schritte weglaufen, dann sehe ich sie nicht mehr. Ich weine vor Entsetzen, ich bin ganz verloren und mausallein in der Welt. Aber da bewegt sich etwas, das ist ja das Muetti, ich habe es gefunden! Stolz halte ich es fest und will es nicht mehr loslassen.

Ja, spielen mag das Muetti mit dem Kindlein, spielen und jemanden haben, der einen anlacht und «Muetti» zu einem sagt. Aber sorgen für das Kind? Und zahlen, von dem mageren Dienstenlöhnlein etwas abgeben? Von frühester Kindheit an lässt mich die Frau, die meine Mutter ist, spüren, dass ich ihr eine Last bin, die sie zu gerne abgeschüttelt hätte.

÷

Meine Mutter ist nicht zufrieden mit meiner Pflegemutter.

«Die Frau hat zu wenig Zeit für das Kind», klagt sie der Grossmutter, «es hat zu wenig Bewegung, und es bekommt immer nur Makkaroni und Salat. Es isst nicht gut, sieh mal, wie klein und mager es ist.»

Die Grossmutter will es nicht glauben. «Makkaroni und Salat? So etwas Gutes sollte das Kind nicht essen?»

«Nein, wenn ich es sage! Bestimmt isst es keine Makkaroni!»

«Aber wenn ich sie koche, isst es, glaubst du?»

Ein lustiger Wettstreit ist zwischen den Frauen ausgebrochen. Ich mag es, wenn es lustig zu und her geht. Die Grossmutter macht sich am Herd zu schaffen, es brutzelt in der Pfanne und riecht so fein. Ich koste, es schmeckt anders als das, was ich gewohnt bin, Grossmutter hat Butter und ein Ei dran getan, das löffle ich mit Eifer. Und neben mir sitzt die Grossmutter und kostet ihren Triumph aus.

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