Onkel Ernst hat jedem Kind etwas mitgebracht, nämlich einen Scherenschleifer, ein eisernes Männchen mit einem Hut und einem Messer in der Hand, das auf einem Brettchen steht. Daran ist ein Schleifstein befestigt, den kann man aufziehen und die Messer daran schleifen, dass die Funken sprühen. Das gefällt mir, ich mag so Bubenzeug gern.
Am Ostermontag ist ein Teil der Verwandten bereits abgereist. Wir anderen wandern miteinander die Taubenlochschlucht bei Biel hinauf, Grossmutter und Mutter sind dabei und Onkel Fritz, Tante Vreni, Tante Fanny mit Onkel Alfred, Onkel Liebi und der lustige Onkel Ernst. Es ist ein schmaler Fussweg, damals noch ohne Geländer, und die Schlucht an einigen Stellen eng und tief. Ich gehe mit Onkel Ernst voraus.
«Pass auf das Trudi auf!» rufen die andern von hinten, während er seine Spässe mit mir treibt.
Es juckt ihn, die ängstlichen Gemüter hinter uns ein wenig in Aufregung zu versetzen. Ich fühle mich vollkommen in Sicherheit bei ihm. Es ist regnerisch, ich trage eine Pelerine mit Kapuze, da legt er seine silberbeschlagene Tabakdose hinein.
«So, nun bist du mein Lasteselchen.»
Nimmt er sie heimlich wieder heraus, so spüre ich, dass das Gewicht nicht mehr da ist, und fürchte, jemand könnte sie gestohlen haben.
Oben, im Restaurant beim Eingang der Schlucht kehren wir ein, ich bekomme Sirup und Guetzli, das schmeckt so süss wie das Lachen und die Spässe von Onkel Ernst und das Funkeln in den Augen der Erwachsenen.
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Im Sommer 1924 liegen Veränderungen in der Luft. Die Bucherin wird immer verluderter und lässt den Haushalt schlittern. Walter hat eine Lehre begonnen und ist ausgezogen. Er wohnt jetzt bei seinem Onkel. Für mich ist die Hauptsache, dass Hedi noch da ist, aber wie lange? Es soll auch bald eine Lehre beginnen.
Einmal kommt das Fräulein Boller von der Vormundschaft mit einer Tante Rosa, nicht Mutters Schwester, auf Besuch. Die Bucherin beklagt sich lauthals über mich, was ich für ein unzuverlässiges, unordentliches Kind sei, wie ich dauernd die Haarspängeli verlöre – sie hat mir deswegen die Haare kurz schneiden lassen –, und überhaupt, ich sei immer auf der Strasse. Ich werde nicht gefragt, kann mich nicht rechtfertigen und weiss auch nicht, was der Besuch zu bedeuten hat.
Erst später habe ich es von meiner Mutter erfahren: Die Tante Rosa war Mutters Jugendfreundin und die Schwester meines Vaters, also eine echte Tante. Sie hatte anerboten, mich zu sich nach Biel zu nehmen. Meine Mutter hegte den Verdacht, dass sie mich als billiges Kindermädchen für ihre zwei kleinen Kinder benützen wollte, sah es wohl auch nicht gern, dass ich so fern von ihr und so nahe beim Vater leben würde. So kam ihr die Klage der Bucherin gelegen, man konnte mich als verwahrlostes Kind bei der Rosa unbeliebt machen.
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Es stimmt, dass ich viel auf der Strasse bin. Die Bucherin kümmert sich wenig um mich, sie schickt mich oft mit einer Scheibe Brot und ein paar Stück Zucker hinaus, und ich treibe mich gern mit den Kindern herum. Einmal spielen wir in einem der dunklen Hausdurchgänge das Dökterlispiel, da erwischt sie uns und macht ein Riesenlamento daraus. Ich weiss nicht, warum sie nachher mit mir den Arzt aufsucht, vielleicht hat sie ein schlechtes Gewissen und versucht es auf mich abzuwälzen, indem sie mich verklagt. Es ist der Vertrauensarzt der Vormundschaftsbehörde, er hat dort im Amt ein Sprechzimmer, ein freundlicher, väterlicher Mann, der mich von klein auf kennt. Der stellt der Bucherin unangenehme Fragen. Wie es komme, dass ich mich so viel auf der Gasse herumtreibe, wenn ich doch so wenig sähe, ob denn niemand zu mir schaue?
«Momoll, das Hedi», mische ich mich ein.
Ich habe aufgeschnappt, dass er gesagt hat, es sei wohl besser, wenn ich von Buchers wegkäme.
«Ich will beim Hedi bleiben.»
Dann wolle er dieses Hedi auch einmal sehen, sagt er, ich solle das nächste Mal mit dem Hedi kommen.
Das passt der Bucherin gar nicht. An dem Tag, da wir beide, Hedi und ich, uns für den Arztbesuch bereit machen, tobt sie vor Eifersucht und schlägt mit dem Handtuch auf Hedi ein. Ich kann es nie ertragen, wenn die Bucherin mein Hedi schlägt, ich schreie und zerre an ihr herum:
«Du darfst Hedi nicht schlagen!» Hedi nimmt mich an der Hand und beschwichtigt mich:
«Sei nur still, wir gehen jetzt.»
Der Arzt sieht, wie fürsorglich das Hedi mit mir umgeht, und erfährt von ihm auch allerlei über die Familienumstände und die Krankheit der Mutter. Hedi hat im Sinn, im kommenden Frühling eine Schneiderinnenlehre zu beginnen und dann mit dem Zwillingsbruder zusammen beim Onkel zu wohnen.
«Geh aber nicht weg von zu Hause, ohne es uns zu sagen», bittet der Arzt.
Er veranlasst, dass auf der Vormundschaft ein anderer Pflegeplatz für mich gesucht wird, und so komme ich im Herbst 1924 nach Freienstein. Ein halbes Jahr später stirbt die Bucherin in der psychiatrischen Klinik Burghölzli, wo sie ihre letzten Monate verbracht hat.
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