Ich hatte den Trolley gar nicht ausgepackt, war schnell wieder nach unten gegangen und hatte einen von diesen grünen Fruchtcocktails in der Lounge getrunken. Er schmeckte nach Mango, Guave, Limette und Kiwi, trug aber einen eigentümlichen, beinahe medizinisch anmutenden, leicht bitteren Nachgeschmack mit sich. Mandy Conchita Williams entpuppte sich als dunkelhaarige Schönheit, gekleidet in ein zitronengelbes Partykleid. Sie war einfach zuckersüß, perfekt geschminkt und sah aus, als sei sie soeben einer Model-Sedcard entsprungen. Die Lady roch bezaubernd und verströmte ihre Aura mit jedem Schritt im ganzen Raum. Sie hob ein Glas Sekt und sprach ein paar Worte zur Begrüßung an die vielleicht ein Dutzend Anwesenden. Sie wies mit ihren leuchtend rot lackierten langen Nägeln auf die Flipchart, wo in großen Lettern der Slogan der Veranstaltung stand: Gegen die Angst.
„Um die Berührungsängste abzubauen“, sagte sie, „das Eis zu brechen, an einem Ort, der voller Wärme und natürlicher Schönheit ist, wie Sie bereits sicher feststellen durften, möchte ich Sie nun bitten, sich einander nur mit Ihren Vornamen vorzustellen. Ich denke, in dieser erlesenen überschaubaren Gruppe sollte dies kein Problem darstellen. Wir befinden uns an einem Ort, wo häufig das Gefühl aufkommt, als Deutscher unter Deutschen zu sein. Und da wir ja eine große Familie sind, so ist es doch selbstverständlich sich zu duzen.“
Manche blieben ernst, andere lächelten, als ob es sich um ein naives Spielchen handelte, aber alle Anwesenden folgten Mandys Aufforderung. Sogar die Gesundheitsministerin, die dem Kongress ihre Aufwartung machte, schüttelte brav den übrigen Gästen die Hand und stellte sich mit „Angenehm, Helga“, ziemlich spröde vor.
Mit Helga wurde ich unerwartet schnell warm. Sie sprach von eisernen Banden und der Etikette, die sie gefangen halte, während sie mein langes Haar betrachtete und selbst mit den Fingerspitzen an ihrer grauen Kurzhaarfrisur herumzupfte. Als ich ihr von meiner Flugangst erzählte, beichtete sie mir, dass sie sich bereits seit einigen Jahren in psychotherapeutischer Behandlung befände. Parasitophobie. „Ich habe unheimliche Angst vor Zecken“, gestand sie. „Diese elenden Blutsauger. Das sind Biester. Die Viecher werden immer mehr, sie sind hartnäckig und unheimlich zäh.“ Helga rollte mit den Augen und ich war froh, dass sie in meiner Gegenwart nicht gleich zu hyperventilieren begann.
Ich versuchte die Zeckengefahr herunterzuspielen, wies auf die gut erforschten und bekannten Behandlungsmethoden hin und die sehr guten Heilungschancen, falls man einmal tatsächlich an Borreliose erkrankte. Aber sie hörte mir gar nicht zu. Sie öffnete ihr Handtäschchen, griff hinein und zeigte mir ihre Zeckenzange und das mitgeführte Antibiotikum. „Ich überlasse nichts dem Zufall“, flüsterte sie mir ins Ohr. „Ich habe in allen Krisengebieten Zeckenwarnschilder aufstellen lassen. Die Lyme ist schrecklich. Sie befällt alle Organe. Und das Rückfallfieber, ich mag gar nicht daran denken.“ Ihre Hand zitterte leicht. Sie fuhr sich mit den Fingern über ihre Stupsnase und kratzte sich dann hinter dem linken Ohr. Helga war von der Notwendigkeit des Kongresses überzeugt, so viel stand fest. Oder vielleicht besser: Sie war ein dankbares Opfer. (Kurz befiel mich der Gedanke, ob Global Sensual Maxx von meiner Flugangst wusste, von meiner Furcht zu versagen, ehe sie mich anriefen, aber diesen Gedanken verdrängte ich schnell wieder.)
Außer Helga lernte ich Georg kennen, einen Mediziner von der Universität Göttingen. Ich machte Bekanntschaft mit Carl-Maria, Chefentwickler eines Pharmaunternehmens und Vorsitzender einer Kommission der Gesundheitswirtschaft, begrüßte den Marketingspezialisten einer führenden Handelskette mit Namen Dennis und den Agentursprecher Tilman, kurz Til, der sich trotz der Hitze in einem schwarzen Designeranzug präsentierte und sich ständig mit einem weißen Taschentuch die Stirn abtupfte.
Wir stellten uns im Kreis zusammen, sprachen darüber, wie empfindlich die Deutschen doch auf Gefahren reagieren. Dennis’ Stichwort hierzu war Dampfkessel. 1830 sei bei uns die Dromosiderophobie ausgebrochen, wusste er zu berichten; die Angst davor, dass Dampfkessel explodieren. Helga war gut präpariert. Sie entgegnete, dass derzeit über zwanzig Prozent der Bevölkerung an Angststörungen erkrankten, und dass man alles tun müsse, um diese Quote zurückzudrängen. Das war Wasser auf die Mühlen der übrigen Anwesenden. Ich wendete ein, man dürfe die Angst als Urinstinkt nicht verteufeln, aber davon wollte niemand etwas hören. Der Tenor war, es gehe darum, die Ängste auszuschließen, gelassener zu werden. Hysterie, Schwarzmalerei und Untergangsstimmung im Ansatz zu ersticken, um gesellschaftlich stark zu sein. Wachstumsziele zu erreichen. – Ich fühlte mich plötzlich unwohl. Was meinten sie mit „den Ängsten“? Die erlernten Ängste, die überhandnahmen, die krankhaften Entwicklungen, die aus der Konfrontation mit einer komplizierten industriellen Welt erwuchsen?
Meine Aufgabe lag während der Veranstaltung nur darin, zum Thema hinzuführen, aber machte ich mir einen Reim auf die Rednerliste, so würde den Journalisten (die vermutlich allesamt Hofberichterstatter waren, wahrscheinlich in einem anderen Hotel untergebracht wurden und sich die Zeit bis zum Kongressbeginn möglicherweise am Strand oder am Pool vertrieben) in wenigen Stunden ein solides Gerüst aus Forschungsergebnissen und innovativen Behandlungsmethoden vorgeführt. Alle Pressevertreter veröffentlichten diese Informationen dann, verbreiteten sie an die Bürger, die, selbst weiter verunsichert, sich aufgefordert fühlten, ihre Ängste offensiv anzugehen, oder sie überhaupt erst an sich zu entdecken. Und dann war man bereits in die Falle getappt. Ein Teufelskreislauf. Und die Gesundheitsindustrie, meine Wenigkeit eingeschlossen, denn ich würde ja eine Menge Angstpatienten in meinen Sitzungen therapieren dürfen, rieb sich die Hände.
Das Unwohlsein angesichts dieser Perspektiven war bei mir so stark, dass ich mich, unter dem Vorwand, dringend telefonieren zu müssen, auf mein Zimmer begab. Die Redner bemerkten nichts von meiner Unpässlichkeit, so hatte ich den Eindruck. Sie sprachen übers Golfen, rissen kurz das Thema Alzheimer an, dann war ich auch schon aus der Lounge hinaus und hatte mich davongemacht. Mandy war mir hinterhergekommen. Am Fahrstuhl holte sie mich ein. Sie erkundigte sich, ob alles in Ordnung sei. Ich bejahte und sagte ihr, wie sehr ich mich doch freue, Teil dieses Kongresses zu sein. Das hatte sie keinen Verdacht schöpfen lassen und ich war ihr entkommen. Es war für mich wie eine Befreiung, als ich die Hotelzimmertür hinter mir schloss. Ich wollte mich aufs Bett legen und entspannen. Aber soweit kam ich gar nicht. Auf dem Sekretär entdeckte ich eine – wohl von der Agentur hinterlegte – edle schwarze Ledermappe. Beim ersten Hineinkommen hatte ich sie anscheinend übersehen oder man hatte sie später – nach meinem Hinausgehen – dort platziert. Ich nahm die Ledermappe hoch, besah sie von allen Seiten. Es war echtes, gutes, teures Leder. Ich öffnete den goldenen Reißverschluss an der Längsseite und klappte die Mappe auf. Der Inhalt versetzte mich in Staunen.
Ein schwerer Füllfederhalter, ein kleiner Notizblock, ein Druckbleistift. Das war, trotz der Exklusivität, noch recht normal für eine Veranstaltung dieser Kategorie. Aber im Visitenkartenfach steckten zwei in Aluminiumfolie eingeschweißte Pillensorten. Jede Folie enthielt drei Pillen. In der ersten Folie waren die Pillen recht groß und von roter Farbe. In der zweiten Folie waren die Pillen kleiner und von grüner Farbe.
Zwischen ihnen beiden steckte ein kleiner Zettel: Überzeugen Sie sich von unseren exzellenten Medikationen mit Retardwirkung. Nehmen Sie eine rote Pille alle 24 Stunden, wenn Sie unter Depressionen leiden. Nehmen Sie die grüne Pille alle 24 Stunden, wenn Sie unter Ängsten leiden. Sind Sie depressiv und leiden gleichsam unter Ängsten, nehmen Sie beide Pillen auf einmal. Sie beeinträchtigen sich nicht in ihrer Wirkung und schädigen nicht ihre Gesundheit.
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