„Ich bin Psychologe. Es ist ein Seminar zum Thema Angst. Ich halte dort einen kleinen Vortrag.“
Charly lachte dröhnend. „Sachen gibt’s“, sagte er. „Ich kann dir auch ne ganze Menge über Angst erzählen. Zum Beispiel, als ich nachts mal in meinem LKW überfallen worden bin. Die Kerle haben einfach die Fahrertür aufgehebelt und mich mit einem Messer bedroht.“
„Und dann?“
Charly grinste. „Haben sie nicht damit gerechnet, dass ich immer mit einer Walther unterm Kopfkissen schlafe. Die waren schneller wieder weg als ich gucken konnte.“
Ich sah ihn zweifelnd an. Ich mochte auf den ersten Blick wie ein Lebowski wirken, aber Charly machte keineswegs den Eindruck ein Rambo zu sein. Oder hatte ich mich so sehr in ihm getäuscht?
Charly legte nach. „Ich hab ein paar Jahre im Knast gesessen. Wegen schwerer Körperverletzung. Ich dachte, ich wär ein harter Bursche, aber da konnte man mal so ein paar richtige Granitbrocken kennenlernen. In der Dusche hast du Angst gekriegt, die Seife fallen zu lassen. Hat einer mal versucht, mich anzufassen, aber dem hab ich ganz schön eins zwischen die Rippen gegeben. Dabei hatte ich eine Scheißangst, dass ich mir fast in die Hosen gemacht hätte. Also, ich meine, wenn ich denn welche angehabt hätte.“
Ich sog scharf die Luft ein.
„Es soll darum gehen, wie man Ängste therapiert und ich finde es eine gute Sache, wenn man das Problem offen angeht.“
Charly schmatzte auf seinem Kaugummi herum.
„Hat meine Susi auch gemacht. Ich meine, als sie noch meine Susi war. Sie hatte Angst vor Spinnen. Sie hat das ganze Haus zusammengeschrien. Unglaublich. Gut, dass ich so selten zu Hause war. Ein klitzekleiner Schneider, weißt du, das Viech mit den ganz dünnen Beinchen und sie war gleich dem Herztod nahe. Ich musste die Tierchen immer töten, man durfte sie nie am Bein fassen und dann raustragen. Das reichte ihr nicht. Sie mussten tot sein.“
„Hast du es nicht mal versucht, ihr zu zeigen, dass man vor Spinnen keine Angst haben muss?“
Charly schüttelte sich.
„Du wirst es nicht glauben, aber ich habe wirklich eine Desensibilisierung versucht. So nennt man das doch. Ich bin in eine Zoohandlung. Hab mal was für die transportiert, da kannte ich den Händler. Ich habe eine wunderschöne Vogelspinne übers Wochenende ausgeliehen. Sie war lieb und überhaupt nicht gefährlich. Sie hatte sogar selbst Angst ohne Ende und haarte, als ich sie auf die Hand nahm. Ich wollte, dass Susi die Spinne mal berührt, dass sie das Tier auf die Hand nimmt, dass sie sich ins Bett legt und die Spinne über die Decke krabbeln lässt. Aber was macht Susi? Sie rennt schreiend aus dem Haus und lässt von Nachbarn den Kämmerer holen.“
Ich schaute ihn mitleidig an. „Vielleicht war es gar nicht die Angst vor der Gefahr, vielleicht war es ein Ekelgefühl...“
Charly wälzte sich auf dem Bett hin und her. „Die hatte einfach einen Lattenschuss. Das fing mit den Spinnen an und ging dann immer weiter. Sie hatte später Angst vor Mäusen, Ratten, Schlangen, Katzen, Hunden. Sogar vor Vögeln. Dabei hatte ich alles Wochen zuvor verkauft. Die Terrarien und auch die Volieren. Alles ihr zuliebe.“
Ich antwortete, dass es mir leid für ihn täte. Dann schwiegen wir eine Weile. Bevor wir einschliefen, sagte Charly noch, dass er es super finde, dass er hier nächtigen dürfe und dass ich davon ausgehen könne, dass er seine Walther wieder unter dem Kopfkissen hätte. Und dann bin ich in einen unruhigen Schlaf verfallen, in dem ich von meinem Volvo träumte. Ich war auf der Flucht vor jemandem, sprang in meinen Volvo hinein und drehte den Zündschlüssel. Er sprang beim dritten Startversuch an und ich entkam. Als ich am nächsten Morgen erwachte, es war kurz nach sechs, da war Charly bereits verschwunden. Ich fand auf seinem Kopfkissen einen Zettel. Danke. Viel Erfolg. Wenig Angst.
2
Ich war von einem Taxifahrer in Empfang genommen worden. Er hieß Miguel Cordoba, wie ich später an seiner Lizenzkarte im Auto feststellte. Als ich ihm begegnete, hielt er am Pier einen Karton mit der Aufschrift Global Sensual Maxx empor, begrüsste mich freundlich in fließendem Deutsch und hofierte mich nach allen Regeln der Kunst, bis ich neben ihm auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte. Mit seinem salzverkrusteten, cremefarbenen Van kutschierte er mich zielsicher aus Palma heraus. Er sprach wenig mit mir, erklärte aber kurz nach Fahrtbeginn, dass er den Auftrag habe, wie ich sicher wisse, mich zunächst zum Hotel zu bringen. Nach dem Einchecken werde sich Mandy um mich kümmern.
Nach Peguera waren es gute vierundzwanzig Kilometer von Palma. Und ich hatte bereits im Internet über das Luxushotel Five White Stripes Deluxe gelesen. Nur hundertfünfzig Meter vom Strand entfernt gelegen. Ein Wellnesstempel. High Class. Eine Oase der Ruhe und Reinheit.
Da wir die nächsten zehn Minuten keinen Smalltalk miteinander hielten, konnte ich ungefiltert die ersten Eindrücke dieser Insel in mich aufsaugen. Ohne Vorbehalte, ein äußerst angenehm wirkender Ort, Palma.
Das, was mich am meisten inspirierte, als wir in zügigem Tempo über die Stadtautobahn MA-1 Richtung Südwesten fuhren, war eine riesige Werbetafel mit der Aufschrift: El Mallorca, que todos queremos! – Das Mallorca, das wir alle wollen.
Aber, was wollten denn alle? Vor allem die Insulaner? Ich fühlte mich zu ein wenig mehr Konversation berufen und erkundigte mich danach, was Mallorca momentan prägt und bewegt.
Der Taxifahrer setzte sich seine Sonnenbrille auf und überlegte einen Moment. „Wir warten auf die ‚Königin der Nacht’.“
Ich dachte, es handele sich um eine berühmte Schauspielerin, Tänzerin oder Sängerin, die den Weg nach Mallorca finden und das Jetset-Leben bereichern würde.
„Bin nicht so der Tänzer“, sagte ich, „und mit Prominenten kenne ich mich erst recht nicht so aus. Wer ist das?“
Der Fahrer grinste breit.
„Die Königin der Nacht, das ist eine Kaktusart, die nur eine Nacht im Jahr blüht. Und im Juni ist es soweit. Das Highlight der Saison ist das.“
Er lachte aufgesetzt angesichts der Banalität dieser pflanzlichen Attraktion und wurde dann schnell wieder ernst.
„Was geht so ... nicht viel. Wenig Arbeit. Kann ja nicht jeder im Tourismus beschäftigt sein. Ein Denkmal soll abgerissen werden, wegen Kriegsverherrlichung. Es geht um den Untergang eines Kriegsschiffs. Die Stadtobersten streiten sich drum. Aber ein anderes wurde dafür aufgebaut. Ein Gedenkstein über den Bruderkrieg von 1522.“
Ich schaute ihn neugierig an. Er spürte wohl mein Interesse und feuerte voller Überzeugung eine schnelle Wortsalve ab.
„Die verarmte Inselbevölkerung hat sich gegen die mächtigen Adligen, reichen Landbesitzer und Kaufleute aufgelehnt. Dabei starben tausend Bruderschaftler auf dem Feld von Son Fornari. Sie haben für die Rechte des Volkes und das Allgemeinwohl der Mallorquiner gekämpft.“
Ich erwiderte nichts darauf, aber meine Gedanken kreisten. Warum erzählte er mir von Tod und Gewalt? Wo er doch wusste, dass ich einen Kongress besuchte, der Ängste thematisierte. Er schien wohl meine Gedanken zu ahnen, denn er schob rasch einen Satz nach.
„Die einen fürchten um ihr Ansehen, die anderen haben Angst davor, dass man die Gräueltaten vergessen könnte.“
Wir schwiegen, bis wir das Hotel erreichten. Ich stieg aus, dankte ihm, gab ihm ein Trinkgeld und er reichte mir meinen Trolley. Dann schob er die Sonnenbrille hoch. Seine braunen Augen blitzten. „Wird schon schiefgehen“, sagte er, tippte sich zum Gruß an die Stirn. „Denken Sie immer daran, Gott ist mit Ihnen.“ Als ich die Eingangshalle des Hotels passierte und meinen Namen an der Rezeption nannte, war Miguel Cordoba bereits verschwunden.
Ich nahm das Zimmer in Augenschein. Stilvoll, keine zu Tierfiguren gefalteten Handtücher auf dem Bett. Mediterran und gleichzeitig von geschmackvoller Zurückhaltung. Vielleicht einen Hauch zu steril, zu glatt, zu sauber.
Читать дальше