Regula Stadler
Tod auf dem Klangweg
Regula Stadler
Tod auf dem Klangweg
Kriminalroman
orte Verlag
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.
Das «Grütli» existiert nicht.
© 2018 by orte Verlag, CH-9103 Schwellbrunn
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Umschlaggestaltung: Janine Durot
Satz: orte Verlag, Schwellbrunn
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ISBN: 978-3-85830-237-3
ISBN eBook: 978-3-85830-239-7
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Für meinen Vater, Max Stadler
Und so wurde der Tod
bis in die kleinsten Zellen
verfrachtet.
1
«Das ist mein letztes Wort! Wenn du tatsächlich vorhast, deine einzige Tochter wegen mir zu enterben, dann weiss ich nicht, ob ich noch mit dir zusammen sein kann. Zum tausendsten Mal: Ich will dein Geld nicht!» Karin erhob sich vehement vom alten roten Sofa, stapfte mit hörbaren Schritten in die Küche und schloss nicht eben sanft die Tür hinter sich.
Marie blieb der Mund offen stehen. Sie schluckte leer. Was sollte das? Karin, ihre ruhige, sanftmütige und zurückhaltende Karin! So hatte sie in ihrer ganzen knapp vierjährigen Beziehung noch nie mit ihr gesprochen! Und dabei meinte Marie es nur gut mit ihr. Abgesehen davon wollte sie Eva gar nicht enterben. Sie hatte ihre Tochter auf den Pflichtteil gesetzt, und jetzt wollte sie mit ihrer Freundin einen Partnerschaftsvertrag abschliessen, damit diese einst den grösseren Teil ihres Vermögens erben würde.
Karin war mit ihren siebenundsechzig Jahren um einiges fitter und gesünder als sie mit ihrem angeborenen Herzfehler und ihrem Übergewicht. Logisch, dass sie sich ab und zu Gedanken über das Sterben machte und ihre Liebste gut versorgt wissen wollte.
Das Schnarren der Kaffeemaschine riss sie aus ihren düsteren Gedanken. Sie beschloss kurzerhand, bereits heute – und zwar allein – ins Toggenburg zu fahren. Nach einem knappen «Tschüss, ich fahr dann mal ins Toggi», und ohne eine Antwort abzuwarten, griff Marie nach ihrer Tasche, verliess die lauschige, grosszügige Altbauwohnung an der Idastrasse und machte sich auf den Weg zum Auto, das sie auf ihrem Abstellplatz an der Gertrudstrasse parkiert hatte. Die idyllisch von Pflanzen umrankte Maisonettewohnung hatten sie und ihr Mann Kurt vor 25 Jahren gekauft, als man in Zürich Wohnungen und Häuser noch bezahlen konnte.
Ihre Tochter lebte seit dem plötzlichen Tod ihres Vaters vor sechs Jahren in New York und war nur selten bei ihrer Mutter in der Schweiz zu Besuch. Sie war für Marie zeitlebens irgendwie ein Fremdkörper, sie hatte nie ein Kind gewollt. Als sie damals unverhofft schwanger wurde, hatte sich ihr Mann derart gefreut, dass Marie beinahe ein schlechtes Gewissen bekam, weil ihr vor dem Zeitpunkt grauste, an dem das Kind da sein würde. Sie und Kurt waren beide Goldschmiede gewesen und hatten zusammen in ihrer eigenen Schmuck-Boutique gearbeitet. Nachdem Eva da war, kümmerte sich Kurt von Anfang an mehr um das Kind, und Marie war mehr im Geschäft tätig.
Für Eva war der Tod ihres Vaters ein furchtbarer Schock gewesen, sie war Hals über Kopf nach New York ausgewandert. Jetzt würde sie mit ihrem Freund Brian nach Zürich kommen, und Marie wollte die seltene Gelegenheit nutzen, um ihre Finanzen zu regeln und ihre Tochter vor vollendete Tatsachen zu stellen. Eva und Brian würden am Abend in Zürich ankommen und morgen oder übermorgen auch im Ferienhaus in Ennetbühl auftauchen.
Die Auseinandersetzung mit ihrer Freundin liess Marie keine Ruhe. Dass Karin ihr drohte, die Beziehung abzubrechen, falls sie weiterhin darauf bestand, ihre Tochter in Bezug auf ihr Erbe zu benachteiligen, hatte sie total überrascht. Aber gerade wegen ihrer Geradlinigkeit und Uneigennützigkeit liebte sie Karin so sehr.
Marie war dermassen mit sich selbst beschäftigt, dass sie gar nicht merkte, wie prachtvoll der Tag war und wie strahlend in Sonne getaucht die Landschaft an ihr vorbeizog. Der Zürichsee leuchtete blau und einladend, wiewohl es zum Baden jetzt Mitte September vermutlich zu kalt war.
Gegen halb vier Uhr kam sie in ihrem Ferienhaus in Ennetbühl an, nachdem sie im Coop in Nesslau das Nötigste eingekauft hatte. Sie machte sich als Erstes einen Kaffee und wollte sich gerade in den Garten setzen, als sie Ueli, ihren Nachbarn, von der Weide kommen sah. Sie wartete, bis er in der Nähe des Gartens erschien und rief: «Hoi, Ueli, hast du Zeit und Lust auf einen Kaffee?» Der lachte und meinte: «Lust schon und Zeit … na ja, gern, aber nur kurz.»
Im Gegensatz zu ihrem früheren Nachbarn mochte Marie den Biobauern Ueli Strässle sehr. Er war nicht nur gebildet und kulturell interessiert, sondern auch ein toleranter, grosszügiger und fröhlicher Mensch, kurz, ein interessanter Gesprächspartner, was hier oben nicht gerade selbstverständlich war. Schade, dass er keine Frau hat, dachte sie. Er war gross und kräftig, mit einem gut geschnittenen, intelligenten Gesicht und Augen, die meist humorvoll und entspannt in die Welt schauten. Vor vier Jahren, als er den Hof übernommen hatte, war eine Frau bei ihm, die aber nach wenigen Monaten wieder nach Bern zurückkehrte.
«Na, wie läuft’s auf dem Hof? Die Schafe gesund?»
«Ja, Gott sei Dank, das ist überstanden!»
Vor Kurzem litten Uelis Mutterschafe und auch die Lämmer an der Schafräude, einer hochansteckenden Milbenkrankheit, und Ueli musste alle Tiere, unter tatkräftiger Mithilfe des Tierarztes, in einem extra errichteten Bad mit speziellen Medikamenten baden.
«Mir persönlich geht’s auch nicht schlecht, bis auf meinen Rücken, der meldet sich, wenn ich’s übertreibe. Und wie du weisst, vermisse ich eine Frau hier oben. Du hast doch eine Tochter. Die sucht nicht zufällig einen Mann und will bauern im Toggenburg?» Ueli lachte und nahm einen Schluck vom Kaffee, den Marie ihm hingestellt hatte.
«Stell dir vor, die kommt tatsächlich morgen, aber leider mit ihrem Freund, diesem Brian, einem arbeitslosen Musiker, soviel ich weiss. Nicht unbedingt der Schwiegersohn, den ich mir vorgestellt habe. Überhaupt, ein Amerikaner …», rümpfte Marie die Nase.
«Marie, ich wusste gar nicht, dass du solche Vorurteile hast! Gib dem armen Kerl doch erst mal eine Chance. Deine Tochter lebt in New York; es ist also kein Wunder, dass sie mit einem Amerikaner liiert ist.»
«Wenn ich mich richtig erinnere, ist er gar kein gebürtiger Amerikaner. Er ist als Kind mit seinen Eltern von der Schweiz in die USA ausgewandert; jedenfalls versteht und spricht er Schweizerdeutsch. Es ist einfach so, dass er mir nicht sonderlich sympathisch ist.» Versonnen griff Marie nach ihrer Kaffeetasse.
«Wo bleibt denn Karin? Ich bin es mir gar nicht gewohnt, dass du allein hier bist?»
Marie erzählte ihm nach kurzem Zögern von ihrer Auseinandersetzung. «Die eingetragene Partnerschaft hat, abgesehen vom Erbrecht, weitere Vorteile. Falls zum Beispiel eine von uns einen Unfall hat, wird die andere informiert. So, wie es jetzt ist, sind wir rechtlich gesehen Fremde! Wir werden alt, es ist höchste Zeit, dass wir unsere Beziehung vertraglich absichern», ereiferte sie sich.
«Da hast du Recht. Andererseits finde ich auch, dass Eva deine Haupterbin bleiben sollte. Ihr müsst eine für alle stimmige Lösung finden.»
Typisch Ueli, dachte Marie, ganz Diplomat, will es immer allen recht machen. Aber letztlich geht es doch darum, was ich persönlich will. Wem ich mein Geld hinterlassen will. Diese Gedanken liessen sie auch nicht los, nachdem Ueli gegangen war und sie sich eine Kleinigkeit zum Abendessen richtete. Sie hörte noch einige Arien aus einer ihrer geliebten Wagner-Opern und ging früh zu Bett.
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