Ich hielt es für einen Werbegag. Man kennt das. Die als Medikamentenschachteln getarnten Süßigkeiten, die man dann zu bestimmten Anlässen, zumeist Geburtstagen oder Jubiläen verschenkte. Ich legte die Mappe neben mich aufs Bett und versuchte zu entspannen. Es gelang mir nicht. Wirrwarr und Tumult im Kopf. Konnte es sein, dass sie uns tatsächlich einen ernstgemeinten Selbstversuch angeboten hatten? Wollten sie, dass wir – alle fünf Redner – diese Pillen schluckten? Hatte ich nur zu wenig Informationen und würde spätestens in zwei oder drei Stunden wissen, ob sie diesen Kongress nur ins Leben gerufen hatten, um ein neues Produkt, vielleicht sogar zwei neue Produkte am Markt zu etablieren?
Ich nahm die Folien mit den Pillen zur Hand, drehte sie zwischen den Fingern. Keine Haltbarkeitsdaten, keine Produktions-Kontrollnummern. Keine Umverpackung. Kein Beipackzettel. Das war doch hanebüchen. Wie sollten der Hersteller – wer immer es auch war – und die Agentur davon ausgehen, dass man wirklich diese Tabletten nahm? (Jetzt gleich oder irgendwann später.)
Ich war versucht, Mandy Conchita Williams anzurufen und sie danach zu fragen, aber ich ließ es dann doch. Ich wollte die Stimmung nicht verderben und wenn es sich tatsächlich nur um einen Reklamegag handelte, war ich bloßgestellt. Also blieb ich. Während des Kongresses würde es sehr schnell herauszufinden sein, ob dieses Zusammentreffen eine reine Werbeveranstaltung für neue Produkte zur Angsttherapie war.
Der Hörsaal im Gemeindezentrum Casal de Peguera fasste ungefähr dreihundert Personen und war bis auf den letzten Platz gefüllt. Ein Gruppen-Stelldichein für Journalisten, Fotografen, Apotheker, Mediziner, Soziologen, Psychologen, Ergotherapeuten, Industrielle aus der Pharmabranche. Aus ganz Europa. Nein, weltweit. Mandy Conchita Williams hatte alles im Griff. Sie wies mit zwei Hostessen den Gästen die Plätze zu, verteilte Ausweise und Flyer und machte rundum einen bezaubernden Eindruck.
Und ich, als erster Redner nach der Begrüßungsansprache von Til an der Reihe, geriet ziemlich ins Schwitzen. Zumindest anfangs, denn ich hatte längere Zeit nicht mehr vor Publikum gesprochen, meine Stimme war plötzlich rau. Rau war gelinde gesagt. Sie war weg. Ich musste mehrfach Wasser trinken und mich räuspern. Sie wieder zurückholen. Aber dann, als lege sich ein Schalter um, war das Lampenfieber wie fortgeblasen, die spürbare Röte auf meinen Wangen nahm ab und meine Hände wurden trockener. Das Herzklopfen, das sich bis in die Schläfenfasern wie ein pochender Wurmfortsatz breitgemacht hatte, nahm ab. Vielleicht lag es an den freundlichen Worten meines Vorredners, dass er mich als Koryphäe auf dem Gebiet der Traumforschung bezeichnet hatte, dass er es danach als Glücksfall bezeichnete, dass ich heute Zeit gefunden hatte, um die Einführungsrede zum Thema Angst zu halten.
Ich holperte nicht in meiner Rede, ich hatte keinen Blackout und ich zog mein Programm auch nicht nur durch. Nach geschlagenen zwanzig Minuten Vortrag kam ich zum Ende und ein starker Applaus brandete auf. Ich hatte dem Treffen einen guten Einstieg verliehen, da durfte ich mir sicher sein.
Aber wie sah es mit der Unbescholtenheit des Symposiums aus? Gebannt folgte ich, in der ersten Reihe sitzend, ausnahmslos jedem Vortrag. Meine Befürchtungen waren grundlos gewesen. Niemand sprach im Detail über neue Medikamente, die gegen Depressionen oder Ängste eingesetzt werden sollten. Man referierte darüber, dass die Angst sich in der Hirnrinde speichere, dass man durch diese Erkenntnis überzeugt sein dürfe, dass Ängste kontrollierbar seien und nicht vom Patienten vergessen, aber doch unterdrückt werden könnten. Dass Ängste behandelbar seien, dass man mit einer engmaschig verzahnten Therapie nahezu angstfrei werden könne, insbesondere in diesem Zusammenhang wurden die Rufe nach einer unterstützenden Medikation laut. Einer Medikation, die eine gewisse Basis schaffe, eine Gelassenheit, um in der Welt zu sein. Diese Forderung stellten Carl-Maria, Dennis und Georg, jeder aus seiner Sicht interpretierend, und ernteten dafür einhellig Beifall.
In der Pause – vor Helgas Rede als krönendem Abschluss -, Sicherheitsleute machten auf dem Gelände bereits die Runde und ich knabberte an einem kleinen Lachshäppchen mit Meerrettichsahne, wurden meine Ko-Redner fleißig zu Interviews gebeten. Mich hingegen wollte niemand sprechen. Mir war es sehr recht so, denn, was hätte ich auch sagen sollen. Ich teilte die Ansicht meiner Kollegen nicht. Warum sollten Ängste durch Medikamente, die eine gewisse Gelassenheit auslösten, unterstützend bekämpft werden? (Schließlich hatte auch ich nur nach Betteln meines Therapeuten Walter Medikamente gegen die Depressionen geschluckt, aber keineswegs welche gegen die Ängste. Walter wäre auch nicht auf die Idee gekommen, mir welche zu verordnen.) Warum mochte man es nicht stattdessen mit Meditationen oder Entspannungsübungen versuchen, die, im Übrigen, nebenwirkungsfrei daher kamen?
Ich hörte ein bisschen bei den Smalltalks zu, verstand Gesprächsfetzen, die von Paragliding, Kite-Surfing, Tennis und Caving handelten, drängelte mich dann zu Mandy Conchita vor, die eigentlich gerade alle Hände voll zu tun hatte, den Hostessen Pakete mit Handzetteln zu übergeben. Ich fand, es war genau an der Zeit, sie mit meiner Frage zu überrumpeln.
„Mandy“, schnurrte ich, „ein toller Tag, ein wichtiger Tag. Aber ich habe vergessen mich zu bedanken.“
„Keine Ursache“, sagte Mandy Conchita mechanisch. „Aber es ist doch noch nicht vorbei, Herr Wallmann. Wir gehen doch nachher aufs Partyboot. Es gibt Gambas und Caipirinha. Oder auch viele andere schöne Sachen, falls Sie etwas anderes bevorzugen. Zum Beispiel einen Sailor Moon Cocktail. Ich liebe Caipirinha.“ Ihre Augen glänzten und sie lächelte gewinnend. Sie war einfach professionell. Ich lächelte zurück und schaute ihr kerzengerade in die Augen.
„Ja, das sind tolle Aussichten“, stimmte ich zu. „Darüber hinaus, ich muss Ihnen mein Kompliment aussprechen, die elegante Ledermappe mit den Pröbchen ist wirklich sehr aufmerksam von Ihnen gewesen.“
Mandy Conchita wies wortlos aber gestenreich die Assistentinnen an, die mit den Flyern ausschwirrten. In ihrem Gehirn arbeitete es, dann runzelte sie die Stirn.
„Was meinen Sie?“
„Na, Ihr Präsent. Die Ledermappe mit den Medikamenten.“
„Mit den Medikamenten?“
„Ja, die grünen Pillen und die roten Pillen. Ein toller Einfall, den Süßkram auf diese Weise zu verschenken. Sehr amüsant.“
Mandy Conchita zog mich näher zu sich heran.
„Herr Wallmann, Sie scherzen. Ich weiß beim besten Willen nicht, was Sie meinen. Wir haben Ihnen den seidenen Bademantel und die Flipflops als Präsent bereitgelegt, die sind für Sie, aber eine Ledermappe, das ist mir neu.“
Sie lächelte. Ich war irritiert. Und sie kam noch näher an mich heran und flüsterte beschwörend. „Herr Wallmann, ich darf Sie bitten, sich über einen solchen Fauxpas nicht mit anderen auszutauschen. Das könnte mich die Stellung kosten, das verstehen Sie doch?“
Ich schaute sie durchdringend an. Jetzt war es meine Stirn, die sich in Falten legte.
„Die Ledermappe ist definitiv nicht von Ihnen?“
In Mandys Augen blitzte es gefährlich. „Ich muss weitermachen, Sie entschuldigen. Und ich gebe Ihnen einen Tipp. Wenn Sie wirklich eine Ledermappe auf Ihrem Zimmer haben, und Sie wünschen diese nicht, warum schmeißen Sie das Ding nicht einfach in den Papierkorb.“ Sie schaute mich keck an, dann machte sie eine wirbelnde Handbewegung und ließ mich stehen.
Die Ledermappe war nicht von Global Sensual Maxx. Wer hatte sie hinterlegt? Ich wollte Mandy keine Schwierigkeiten machen, aber ich würde vor dieser Partyboot-Feier Nachforschungen dazu anstellen müssen. Eine ganze Weile grübelte ich darüber, bis mich ein anderes Ereignis aus meinen Gedanken riss. Die Gäste strömten bereits zum Einlass, da bemerkte ich, wie vom Weg her, der zur Eingangshalle führte, eine Frau, sie mochte etwa fünfzig sein, sich den Weg durch die Sicherheitskräfte zu bahnen versuchte. Ich sah es sofort, sie gehörte hier nicht her. Ihre Füße steckten in halb zerfetzten Espandrillos, dazu trug sie kurze, ausgefranste Bluejeans und eine verblichene orangefarbene Bluse. Ihr mittellanges, rotes Haar hatte sie sich zum Zopf gebunden. Sie war ungeschminkt und wirkte abgekämpft von Sonne und Hitze. Sie mochte einmal schön gewesen sein. Jetzt wirkte sie mager und ausgezehrt. Irgendwie verbissen.
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