Er schlich in die Küche und wollte sich an den Küchentisch setzen.
„Wasch dir die Hände!“, erklang der mütterliche Befehl.
Walter machte kehrt und schlurfte Richtung Bad.
„Heb’ die Füße beim Gehen!“, rügte die Mutter.
Er ließ im Bad das Wasser über seine Hände laufen und warf einen Blick in den Spiegel.
Groß, schlank, blond, blaue Augen. Ein Typ wie der junge Hugh Grant. Ein Frauenschwarm, wie ihm sein Freund neidlos bestätigte.
Aber irgendwas lief immer schief, sonst stünde er nicht hier und musste belämmert in Mutters Alibert glotzen.
Zurückgekehrt an den Esstisch sah Berta freundlicherweise durch ihn hindurch und ignorierte ihn völlig.
Walter war dafür äußerst dankbar, was die gute Berta allerdings nicht im Geringsten ahnte.
Sie überreichte ihrer Exschwiegermutter einen Strauß Rosen.
Die schmachteten schon welk in der Folie und Walter war sich sicher, dass seine Ex wieder einmal ein gutes Geschäft vorhatte.
Was sie sich jetzt zu Mittag einverleiben würde, plus der Speisen, die sie dann in ihrem Plastikgeschirr mit nach Hause nahm, deckte locker die Ausgaben für das offensichtliche bereits verbilligte, verblühte Grünzeug.
Margarethe Klein tischte auf.
Walter konnte sich, wie so oft, nicht des Verdachts erwehren, dass seine Mutter in sich eine nicht geringe Boshaftigkeit beheimatet hatte.
Es gab Rotkraut mit Kartoffeln und Bratwurst.
Walter hasste Rotkraut.
Mama Klein klatschte zwei gehäufte Schöpfer auf Walters Teller.
Seinen leisen Einwand tat sie resolut damit ab, indem sie ihn fragte: „Glaubst du, dass dir Gemüse schadet?“
Und gleich ging es weiter.
„Ich stehe nicht Stunden in der Küche und dann wird nichts gegessen!“
Walter war kein Koch, aber er wusste, dass gefrorenes Rotkraut auftauen und Bratwürste in die Pfanne werfen, nicht Stunden dauern kann.
Selbst die Kartoffeln aufzusetzen und dann zu schälen, konnten schwerlich einen ganzen Vormittag in Anspruch nehmen.
Und mit Tiefkühlkost und Dosenfraß kannte er sich aus, denn damit war er während seiner Ehe zur Genüge gefüttert worden.
Berta säuselte: „Danke Margarethe, du kochst immer so köstlich.“
In seine Richtung, aber wie immer ihn keines Blickes würdigend, warf sie ein verächtliches: „Ich möchte nicht wissen, wie dankbar viele Söhne wären, wenn ihre Mutter für sie kochen würde.“
„Danke, liebe Berta“, sagte gerührt die Gelobte.
Berta strich ihr liebevoll über den Arm.
Walter würgte am Rotkraut.
Berta, zu ihrer Exschwiegermutter gewandt, nuschelte, dank vollem Mund, mit sorgenvoller Stimme: „Margarethe, du trägst ja noch immer schwarz?
Ich glaube, du hast ohnehin schon länger als sechs Wochen Trauer getragen. Damit hast du mehr als deine Pflicht erfüllt. Und jetzt ist Sommer, da ist die schwarze Kleidung zu heiß! Denk an deine angeschlagene Gesundheit“, mahnte die besorgte Exschwiegertochter und steckte sich den letzten Zipfel Bratwurst in den Rachen.
Margarethe griff sich sofort ans Herz.
Walters Tante Brunhilde, die Schwester seiner Mutter, war gemeinsam mit ihrem Mann bei einem Flug über die südlichen Anden, bei Santiago de Chile tödlich verunglückt.
Es gab eine hinterlegte Verfügung, dass beide in Chile beerdigt werden wollten. Hier hatten die Beiden auch einen kleinen Zweitwohnsitz.
Margarethe war über diese Entscheidung sehr empört gewesen.
So etwas schickte sich nicht!
Irgendwo bei den Indianern begraben!
Rücksichtslos wie immer von ihrer Schwester. Wie sollte sie mit ihrem angeschlagenen Herzen je ihr Grab besuchen können?
Das Klima würde sie umbringen.
Aber Brunhilde hatte ja nie auf irgendjemanden Rücksicht genommen.
Egoistisch hatte die nur ihre Ziele und Interessen verfolgt!
Walter kannte diese Litaneien auswendig und dachte an seine Tante.
Er war sehr traurig gewesen, als er vom Ableben Brunhildes erfuhr.
Er hatte sie sehr gemocht, auch wenn er sie nur maximal zweimal im Jahr sah.
Brunhildes Mann war ein bekannter Reisejournalist gewesen und seine Frau war eine kongeniale Partnerin an seiner Seite.
Die beiden hatten keine Kinder.
Ob gewollt oder ungewollt wusste er nicht.
Vielleicht war es ihnen einfach nicht beschieden gewesen eigene Kinder zu haben. Geliebt hatten sie einander sicher sehr.
Seine Mutter vertrat eher die Ansicht, dass die Kinderlosigkeit reiner Egoismus seitens ihrer Schwester war.
Mit einem Kind hätte sie nie so viel in der Weltgeschichte herum gondeln können, wie sie es tat.
Sie, Margarethe, hatte sich für ihr Kind aufgeopfert.
Und was war der Dank dafür?
Ein vernichtender Blick beider Frauen traf Walter.
„Mein Kind hat mein Leben auf den Kopf gestellt. In meinem Alter sollte man zur Ruhe kommen und keine Sorgen haben!“
Margarethe drückte einige Krokodilstränen hervor.
„Und meine liebe Schwiegertochter hast du mir auch genommen!“
„Sie ist ja noch da“, bemerkte Walter lapidar.
Margarethe brauste auf.
„Ja, weil Berta mir Trost spendet!“
„Und weil Berta dein Essen so gut schmeckt“, konterte er.
„Ich verbiete mir deinen Zynismus!
Du und Brunhilde!
Nur auf das eigene Vergnügen aus. Von mir hast du das nicht geerbt!
Keiner kann ahnen, wie viele Opfer von einer Mutter abverlangt werden“, ging es larmoyant weiter.
Und aus dem Fundus der Entsagungstruhe kamen die wohlbekannten Geschichten.
Das Rotkraut auf Walters Teller musste wiederum aus der Trickkiste eines Magiers stammen.
Er wurde immer mehr.
Apropos Opfer.
Davon konnte er etliche Lieder, nein Arien singen.
Zum Beispiel den Fraß runter zu würgen war ein Opfer!
Das allergrößte Opfer aber war, als ihm seine Mutter Berta aufs Auge drückte und ihn damit in eine Ehehölle hinein manövrierte.
Berta entlockte Margarethe noch einige Geschichten über die verunglückte Brunhilde.
Margarethe war in ihrem Element.
Walter reichte es.
Er stand auf, kippte den Rest des Rotkohls in die kleine Biotonne und verschwand in sein Zimmer.
Es dauerte nur Sekunden und Margarethe riss die Türe auf.
„Es ist heiß! Du musst die Türe und die Fenster offenlassen, damit es durchzieht!“
Walter setzte sich brav an seinen alten Schreibtisch und wollte die Immobilienannoncen einiger Tageszeitungen durchblättern.
Seine Mutter hatte keinen Internetanschluss. Sie brauchte dieses unnütze, neumodische Zeug nicht! War auch egal, denn auch seinen Laptop hatte sich Berta gekrallt. Aber für die rasche Freiheit war ihm bei der Scheidung alles recht gewesen.
In der Küche schluckte Berta einige Pülverchen. Die brauchte sie zur Nervenberuhigung, seit der Trennung von Walter.
„Mein armes, armes Kind!“, bedauerte sie Margarethe.
Berta seufzte: „Du und ich haben es beide nicht leicht! Es wird noch dauern, bis wir beide das verkraftet haben“, jammerte Berta laut genug, damit Walter es auch hören konnte.
„Ich habe noch immer diesen fürchterlichen Anblick vor mir!“, flüsterte Berta und schlug die Hände vors Gesicht.
In Erinnerung an die entsetzlich ungustiöse Geschichte schluckte auch Margarethe sicherheitshalber ihre Herztropfen.
Walter war sich sicher, dass es nur Placebomedizin war, denn sooft wie seine Mutter die Tropfen einnahm, musste sie schon längst eine Vergiftung haben.
Oder sie hatte die Konstitution eines sibirischen Elchs.
„Tante Brunhilde“, seufzte er leise.
Sie hatte recht gehabt.
„Bub!“, hatte sie laut ausgerufen, als sie von der bevorstehenden Eheschließung erfuhr.
„Heirate ja nicht diese übriggebliebene Betschwester!
Wohlerzogenheit und beste Manieren hin oder her, aber da muss man einen Trennungsstrich ziehen!
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