Leopold Loika hörte nur den Knall der Zündkapsel. Er realisierte blitzschnell: Der junge Bosnier am Straßenrand hatte den Zündstift der Granate an einem Laternenmast abgeschlagen, um sie für den Wurf scharf zu machen. Gleich würde der Sprengsatz im Fond des Gräf & Stift landen. Leopold reagierte instinktiv. Er drückte das Gaspedal mit aller Kraft durch. Der Motor jaulte auf, und der schwere Wagen machte einen Satz nach vorne. Der Sprengkörper wirbelte durch die Luft, aber er verfehlte das Automobil, in dem der Erzherzog saß, und detonierte unter dem nachfolgenden Fahrzeug. Ein gewaltiger Knall ertönte. Nägel und kleingehacktes Blei wirbelten durch die Luft.
Leopold bremste den Wagen ab und wandte den Kopf nach hinten. Der Thronfolger war kreidebleich. Im Augenwinkel erkannte er den Attentäter, einen schmächtigen Burschen. Leopold ließ ihn nicht aus den Augen – der Junge zog im Laufen etwas aus der Tasche, eine kleine Phiole offenbar, und steckte sie in den Mund. Offenbar schluckte er das Gefäß oder dessen Inhalt, so genau konnte das Leopold nicht erkennen. Der junge Mann gab Fersengeld. Ein kräftiger Verfolger im schwarzen Anzug setzte dem schmächtigen Jungen nach, war aber nicht schnell genug. Der Attentäter erreichte die Kaimauer und sprang in den Fluss. Der Verfolger setzte ihm nach, ebenso ein uniformierter Polizist.
Erzherzogin Sophie zitterte. Die Mundwinkel ihres Gemahls zuckten. Er drückte seine Frau fest an sich. Als ihnen Leopold den Kopf zuwandte, hatte sich der Thronfolger jedoch schon wieder gefasst. Er beugte sich nach vorne und legte ganz kurz die Hand auf die Schulter des Fahrers. „Sie haben uns gerettet. Gut gemacht, Fahrer.”
Loika wurde erst jetzt bewusst, wie knapp sie an einer Katastrophe vorbeigeschrammt waren. Er spürte erst jetzt, wie er am ganzen Leib zitterte.
Ein Glück, dass Franz Graf Harrach ausgerechnet ihn abgestellt hatte, um den nächsten Kaiser Österreich-Ungarns durch diese Stadt zu kutschieren. Kein anderer beherrschte diesen Wagen so gut wie er. Es war ein Mordanschlag gewesen. Als es Leopold allmählich gelang, seine wirren Gedanken zu ordnen, wurde ihm klar, dass er beinahe mit dran geglaubt hätte. Die Granate hätte ohne Frage auch ihn in Stücke gerissen. „Verdammtes Serbenpack”, grummelte er finster in seinen Bart.
SARAJEWO, 28. Juni 1914, 10.41 Uhr. Vor einer Stunde hatte er noch nicht im Entferntesten geahnt, was heute auf ihn zukommen würde. In Kolonne waren sie zum Bahnhof gefahren, um dort die hohen Gäste abzuholen. Franz Ferdinand hatte beim Einsteigen noch gescherzt: „Bringen Sie uns gut durch die Stadt. Und fahren Sie vorsichtig!” – „Selbstverständlich, Eure Kaiserliche Hoheit”, hatte Leopold geantwortet und sich brav verbeugt, als er dem Monarchenpaar den Schlag öffnete.
Franz Ferdinand trug die Uniform eines Kavalleriegenerals, seine Gattin ein weit ausladendes weißes Seidenkleid mit roter Schärpe. Leopold hatte sich noch gewundert, wie wenig Sicherheitskräfte man für den hohen Staatsbesuch aufgeboten hatte. Am Bahnhof hatte er nur etwa 40 Polizisten gezählt. Viel zu wenige, um die Fahrtroute durch die Stadt effektiv zu sichern. Und die erzherzogliche Leibwache war am Bahnhof zurückgeblieben.
Nun wartete der Chauffeur im Wagen mit dem herabgelassenen Verdeck, während die Mitglieder der erzherzoglichen Delegation im Rathaus berieten. Allmählich begann er, sich vom Schrecken des Attentats zu erholen. Drinnen war es angenehm kühl, was den hohen Besuchern sehr zupass kam. Nur Franz Ferdinand offenbarte hier drinnen sein hitziges Gemüt. „Ich komme hier als euer Gast, und ihr begrüßt mich mit Bomben!”, fuhr er den Bürgermeister an.
Der Schrecken saß ihnen allen noch in den Gliedern. Die Explosion hatte zwei Offiziere der Eskorte und sechs Schaulustige verletzt. Nun wollte der Erzherzog seine Männer im Garnisonskrankenhaus am Westrand der Stadt besuchen, wohin sie gebracht worden waren. Franz Ferdinand dachte gar nicht daran, die Parade durch Sarajewo abzubrechen. Ursprünglich hatten sie nur ein Stück weit entlang des Appelkais zurückfahren und dann bei der Franz-Josef-Straße nach rechts in die Innenstadt abbiegen wollen. Nun, beschloss man, sollte der Autokonvoi mit dem Thronfolger auf dem übersichtlicheren Appelkai bleiben. Truppen in die Stadt zu beordern, um die Straßen zu räumen und zu si-chern, wäre wohl nicht nötig.
Was sollte schon geschehen? Der junge Attentäter war schließlich nicht weit gekommen. Sie hatten ihn schließlich aus der Miljacka gefischt und festgenommen, konstatierte der ehrgeizige Feldzeugmeister und k.u.k.-Statthalter Bosnien-Herzegowinas Oskar Potiorek zufrieden. Das Wasser war an der Stelle, wo der Junge von der Kaimauer gesprungen war, sehr flach gewesen, und seine Verfolger hatten ihn deshalb schnell erwischt. Es hieß, er habe eine Giftkapsel geschluckt, doch habe deren Inhalt nicht gewirkt, und er sei noch am Leben.
Der Thronfolger schüttelte den Kopf. „Das muss ich dem alten Conrad lassen: Er hat wirklich Recht gehabt!”, sagte er zu Sophie. „Das ist ja wirklich hübsch: Da kommt man zu Besuch in diese Stadt und wird mit Bomben empfangen. Eine feine Art ist das!” Franz Ferdinand schüttelte in stiller Zwiesprache mit sich selber den Kopf. Er wandte sich Potiorek zu und stichelte: „Wie sieht es aus? Werden wir heute noch ein paar Kugerl bekommen, General? Was meint ihr?”
„Nicht doch, Eure Kaiserliche Hoheit!” Der ehrgeizige Statthalter erschrak. Er begann zu fürchten, dass ihn der künftige Regent für das Geschehene verantwortlich machen könnte. „Wir haben die Lage völlig unter Kontrolle, seid dessen gewiss!”, beeilte er sich unterwürfig zu versichern.
Der Österreicher legte die Stirn in Falten. „Wäre auch besser für alle”, meinte er. „Für Euch vor allem.” Obwohl er ziemlich wütend schien, ließ er sich von Potiorek in der Folge überzeugen, dass heute keine weiteren Zwischenfälle mehr zu befürchten seien. „Der Kerl war ja wohl ein Verrückter”, schimpfte Potiorek über den jungen Attentäter.
Der Erzherzog widersprach ihm nicht. Seine Frau wollte Franz Ferdinand allerdings in Sicherheit wissen. „Ich will dir nicht noch mehr zumuten, Sopherl”, sagte er und wandte sich an Oskar Potiorek. „Ich wünsche, dass man meine Gattin nach Ilidza bringt, während ich meine verletzten Landsleute im Spital besuche.”
Potiorek nickte ergeben. „Sehr wohl, Kaiserliche Hoheit!”
„Auf keinen Fall! Das ist doch nicht nötig”, entgegnete Sophie energisch. „Ich will bei dir bleiben, Franzl. Du hast selbst gesagt, dass es noch einmal gut gegangen ist! Was soll mir schon zustoßen?” Potiorek war klar, warum sie insistierte: Als böhmische Gräfin galt sie nach den Regeln des Hauses Habsburg als nicht standesgemäß. In Wien durfte sie daher bei offiziellen Anlässen nie an der Seite ihres Mannes auftreten – so geboten es die Regeln des Erzhauses. Doch hier, in Sarajewo, spielte das Protokoll nicht dieselbe Rolle wie in der österreichischen Hauptstadt. Hier konnte sie an Empfängen teilnehmen und im selben Wagen wie der Erzherzog fahren. Und das, so schien es Potiorek, genoss sie. Das wollte sich Sophie jetzt nicht nehmen lassen.
Die anschließende Debatte fiel kurz aus. Die Erzherzogin setzte sich durch. Es ist wie bei allen anderen Paaren, dachte Potiorek. Er trat als Erster aus dem Rathaus auf die Straße. Ihm folgten Sophie und Franz Ferdinand, dessen Helm mit dem riesigen Federbusch in der Sonne glänzte. Mit einem großen weißen Stofftaschentuch wischte Potiorek Schweißtropfen von der Stirn. Er atmete tief durch. Das war knapp gewesen vorher. Wäre Harrachs Fahrer nicht gewesen – dieser Attentäter hätte ganz sicher seine Karriere zerstört.
Diesem Teufelskerl von Fahrer hatte es der Statthalter zu verdanken, dass er nun doch noch an der Seite des Thronfolgers und seiner Gattin würde glänzen können. Ebendies hatte er geplant, und nun war es, dem Fahrer sei Dank, noch besser gekommen: Der Besuch des Thronfolgerpaares in Sarajewo würde in die Geschichte eingehen: Ein feiger Anschlag war gescheitert, und er, Potiorek, hatte dem künftigen Regenten in dieser kritischen Situation treu zur Seite gestanden. Er hatte sich als ein Gouverneur erwiesen, der die Dinge unter Kontrolle behielt, auch wenn sie sich verkomplizierten. Franz Ferdinand würde das auch noch erkennen, und darauf kam es für den Statthalter an.
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